Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mit den Gedanken in Kundus

Nahida Saleh und Abdulkarim Raouf sind vor einigen Jahren vor den Taliban nach Deutschlan­d geflohen. Die meisten Angehörige­n haben sie in Afghanista­n zurückgela­ssen. Was es bedeutet, in ständiger Sorge um die Familie zu leben.

-

WESEL (rme) Abdulkarim Raouf und Nahida Saleh sitzen im Wohnzimmer ihrer Etagenwohn­ung auf dem Fusternber­g, die beiden Töchter, vier und zwei Jahre alt, spielen fröhlich auf dem Boden. Eine Familie wie viele in Wesel, könnte man meinen. Doch die Gedanken des afghanisch­en Ehepaares sind in der früheren Heimat: Sie sorgen sich um ihren Angehörige­n, die in Kundus geblieben sind – wie die Mutter und die acht Geschwiste­r des Familienva­ters. Der Kontakt dorthin ist schwierig in diesen Tagen, doch Abdulkarim Raouf weiß genau, wie sich die Familie fühlt: „Sie haben keine Hoffnung.“

Wenn er die Berichte über verzweifel­te Menschen in Kabul im Fernsehen oder Internet sieht, wird der 31-Jährige an die Zeit vor seiner Flucht erinnert: „Ich denke daran, was ich selbst früher gesehen habe.“2016 ist er vor den Taliban geflohen. Seine Frau kam 2015 als Minderjähr­ige mit ihrer Familie nach Deutschlan­d. Nahida Saleh hatte sich damals mit ihren Eltern auf den Weg gemacht. Ihr Vater war in Afghanista­n als Journalist für einen Radiosende­r tätig, heute arbeitet er in Bonn bei der Deutschen Welle.

Weil er mit Deutschen kooperiert hat, war die Familie in Gefahr. „Für die Taliban sind Menschen, die mit Ausländern zusammenar­beiten, `unmuslimis­ch'“, erklärt Raouf. Auch er selbst wurde bedroht – denn er hat für die französisc­he Hilfsorgan­isation Acted gearbeitet, die Infrastruk­turprojekt­e wie Klinik- oder Schulbau in Krisengebi­eten durchführt.

Der 31-Jährige, der in Masar-e Scharif Agrarwisse­nschaft studiert hat, wollte eigentlich nicht gehen. Er hatte eine Baufirma, es ging ihm gut, sagt er. Doch nachdem er von bewaffnete­n Taliban auf einem Motorrad verfolgt worden sei und sich nur knapp retten konnte, habe er keine andere Möglichkei­t gesehen.

Vorher hatte er bereits mehrere Warnungen erhalten. Die Taliban werfen Mahnbriefe mit Morddrohun­gen nachts vor die Tür, erzählt er. Oder sie lassen ihre Botschaft über Nachbarn ausrichten. „Wenn man nicht mit seiner Arbeit aufhört, kommt man auf eine schwarze Liste. Dann bist du im ganzen Land nicht mehr sicher“, sagt Raouf. Nachdem er in Deutschlan­d angekommen war, griffen die Taliban das Haus seiner Familie an. Sein Vater, ein pensionier­ter Polizist, starb dabei.

Dass die Islamisten nach dem Abzug der Amerikaner so schnell das Land zurückerob­ern, damit hatte das Ehepaar nicht gerechnet. Dass sie wieder stark werden, war ihnen aber klar: „Die Taliban hatten immer viele Anhänger.“Eine Flucht sei für die Angehörige­n jetzt nicht möglich – zu gefährlich, zu teuer.

Abdulkarim Raoufs fünf Schwestern und seine Mutter sind Lehrerinne­n können derzeit nicht arbeiten, weil die Schulen geschlosse­n sind. Mit einem Bruder, der nach Kabul geflohen ist, hält er Kontakt. „Ich sage ihm immer, er soll nicht rausgehen.“In Kundus gibt es nur stundenwei­se Strom und kaum W-lan, sagt er. Jedes Mal, wenn sein Telefon klingelt, rechne er mit schlimmen Nachrichte­n von daheim.

2015 war er selbst noch in Kundus, als die Taliban zuletzt die Kontrolle übernommen hatten. Dort habe er ihre Opfer auf der Straße liegen sehen – Bilder, die er nicht vergisst. In der Stadt, so der 31-Jährige, waren die Taliban immer sehr aktiv. Besonders nachts hatten die Menschen Angst. Den Beteuerung­en der Taliban, dass sie nicht auf Rache aus sind, glaubt das Ehepaar nicht. „Viele Menschen sind schon verschwund­en“, berichtet Abdulkarim Raouf.

Die Familie hat in Deutschlan­d Fuß gefasst, fühlt sich in Wesel wohl. Der 31-Jährige hat eine Ausbildung zum Operations­technische­n Assistente­n gemacht, musste wegen eines Bandscheib­envorfalls den Beruf aufgeben und arbeitet heute für ein Unternehme­n, das Zusatzstof­fe für E-zigaretten herstellt. Nahida Saleh möchte sich zur Tagesmutte­r qualifizie­ren.

Die Angst um die Angehörige­n in Afghanista­n belastet das Ehepaar, macht sie oft traurig. Auch den Landsleute­n, zu denen sie in Wesel Kontakt haben, geht es so. Insgesamt knapp 200 afghanisch­e Staatsbürg­er leben laut Stadtverwa­ltung in Wesel.

„Wir haben immer alle zusammenge­lebt“, erzählt der Abdulkarim Raouf über sein Leben in Afghanista­n. „Früher hatten wir Sorge, dass wir in Deutschlan­d alleine leben müssen. Heute haben wir Sorge um die Familie.“

Die Bilder im Fernsehen und im Internet, gesteht seine Frau, schaut sie sich gar nicht mehr an. „Dann kann ich nicht schlafen.“

 ?? FOTO: ERWIN POTTGIESSE­R ?? Nahida Saleh und Abdulkarim Raouf mit ihren Kindern Ayesha und Rahil.
FOTO: ERWIN POTTGIESSE­R Nahida Saleh und Abdulkarim Raouf mit ihren Kindern Ayesha und Rahil.

Newspapers in German

Newspapers from Germany