Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein Präses packt an
ANALYSE Thorsten Latzel steht seit März an der Spitze der Evangelischen Kirche im Rheinland. Deren Leitung hat jetzt ein Positionspapier vorgelegt, das erkennbar Latzels Handschrift trägt – und einige Brisanz enthält.
Jedes evangelische Kirchenmitglied im Rheinland soll Besuch bekommen. Pfarrer und ehrenamtliche Presbyteriumsmitglieder sollen ihre Gemeindeglieder befragen: „Wie geht es Ihnen nach Corona?“, „Was wünschen Sie sich von Ihrer Kirchengemeinde?“, „Was ist Ihnen am Glauben wichtig?“. Würde sie flächendeckend durchgeführt, wäre die „Aktivierende Mitgliederbefragung nach Corona“wohl eine der größten Aktionen zur Mitgliederbindung, die die evangelische Kirche jemals unternommen hätte.
Derzeit ist sie freilich nur ein Vorschlag. Sie findet sich in einem Papier mit dem Titel „Ekir 2030 – wir gestalten ,evangelisch-rheinisch' zukunftsfähig“, das die im Januar in großen Teilen neu zusammengesetzte Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland (abgekürzt Ekir) in der vergangenen Woche an die Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden und an die Gemeinden verschickt hat. Darin geht es darum, wie sich die mit 2,4 Millionen Mitgliedern zweitgrößte Landeskirche der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) weiterentwickeln will. Denn der Befund ist klar: „Wir verlieren als Landeskirche alle zehn Jahre ungefähr 300.000 bis 400.000 Mitglieder“, heißt es in dem Papier. „Umgerechnet auf Gemeinden heißt das pro Jahr etwa 15 bis 20 Gemeinden à 2000 Mitglieder.“
Und während die Landeskirche in der Vergangenheit gern Zukunftsprozesse startete und ausschweifende Grundsatzdiskussionen führte, soll es nun zur Sache gehen. Schon der stakkatoartige Stil des Positionspapiers, das im Grunde eine Auflistung von Stichpunkten ist, weist in diese Richtung. Und im Anschreiben heißt es: „Wie Sie beim Lesen feststellen werden, liegt der Akzent dabei vor allem auf der Frage der praktischen Umsetzung; es geht uns nicht um eine redaktionelle Textarbeit.“Denn in bislang unbekannter Deutlichkeit hält das Papier der Kirchenleitung ein wesentliches Problem der rheinischen Kirche fest: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.“Und: „Wir sind gut im Diskutieren, aber schlecht im Verändern.“
Spürbar ist hier die Handschrift des neuen Präses Thorsten Latzel. Er will anpacken und gestalten. Letztlich war das schon während der Hochwasserkatastrophe zu beobachten: Während andere Bischöfe und Präsides von solch einem Ereignis wenige Monate nach Amtsantritt überfordert gewesen wären, war Latzel die ganze Zeit präsent. Dem Theologen ist der direkte Kontakt der Kirche zu den Menschen wichtig. Das spürt man ebenso in dem Papier, wie auch deutliche Anleihen bei den Reformpapieren der EKD, etwa „Kirche der Freiheit“, sichtbar werden. Doch diese Papiere wurden oft zerredet: Wer sich dadurch in seiner kirchlichen Komfortzone gestört fühlte, schrie meist laut und deutlich auf. Am Ende gab es lange, meist in evangelischen Magazinen wie „Zeitzeichen“geführte Debatten und wenig konkrete Veränderungen. „Evangelisch ist es, anderer Meinung zu sein“, lautet deswegen auch ein bekanntes Bonmot der evangelischen Kirche.
Ein Zerreden ihrer Initiative will die rheinische Kirchenleitung nun offenbar vermeiden: Klar und deutlich sind deswegen die Vorschläge definiert, und auch wie es weitergehen soll, hat Präses Latzel in einem Interview auf der Website der Landeskirche bereits vorgegeben. „Zu den einzelnen Projekten stellen wir jetzt Gruppen zusammen, mit denen wir uns an die Umsetzung machen“, sagt Latzel da: „Dazu laden wir jeweils Menschen ein, die hier eine besondere Kompetenz und Expertise haben.“
Neben der Mitgliederbefragung nach Corona setzt die Landeskirche auch auf andere Initiativen. Im Zentrum steht aber auch dabei die Mitgliederorientierung. So soll es 50 „mitgliederorientierte Modellgemeinden“geben, und auch die Begleitung der Gläubigen durch Taufen, Trauungen, Trauerfeiern oder Gottesdienste zum Schulanfang und Segnungen zum Umzug soll einen neuen Stellenwert bekommen. Dazu kommen die Anstellung von Pfarrern beim Kirchenkreis, die Berufung von jährlich 30 Predigern unter 30 Jahren und die Digitalisierung der Presbyteriumswahlen.
Besondere Brisanz steckt indes in einem anderen Vorschlag: die „freie Gemeindewahl unter Mitnahme der Kirchensteuern bei Umgemeindung“. Jedes Kirchenmitglied, das sich in einer anderen Gemeinde wohler fühlt als in der Gemeinde, in der es zufällig seinen Wohnort hat, soll dahin wechseln können. Und seine Kirchensteuern, die in der Evangelischen Kirche im Rheinland zunächst in die Gemeinden und dann über eine Umlage in die Landeskirche fließen, soll es mitnehmen können. Das klingt etwa, als sollten Gemeinden, die nur noch auf dem Papier existieren und ihren Mitgliedern keine Angebote machen, für ihre Selbstbezogenheit bestraft werden – was Latzel freilich dementiert. „Es geht nicht um Wettbewerb – alle Gemeinden sind doch Teil unserer Kirche und nicht auf einem konkurrierenden Markt. Worum es geht, ist, dass wir unsere Arbeit und die Strukturen konsequent an den Menschen orientieren, nicht umgekehrt.“
Doch was von diesen Vorschlägen am Ende tatsächlich umgesetzt wird, wird erst die Zukunft und in manchen Fällen wohl erst die kommende Landessynode zeigen. Vorerst hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland jedenfalls die Ärmel hochgekrempelt und vorgelegt – und man darf gespannt darauf sein, wie sich die Debatten zum neuen Positionspapier in der Landeskirche in der kommenden Zeit entwickeln werden.
„Wir sind gut im Diskutieren, aber schlecht im Verändern“Aus dem Positionspapier der rheinischen Kirche