Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Gerechtigkeit für Marvin
Ein 46-Jähriger hat einen Duisburger Jungen fast 500 Mal missbraucht und im Schrank versteckt. Er kommt wohl nie mehr frei.
DUISBURG/BOCHUMES gibt im Grunde nur drei Arten von Angeklagten. Lars H. gehört zur gefährlichsten. Viele Menschen saßen schon in Saal A 0.10, auf der Anklagebank im Landgericht Bochum. Manche schwiegen, sie sagten nicht ein einziges Wort zu dem, was die Justiz ihnen vorgeworfen hatte. Andere packten aus, erzählten ausführlich und ehrlich, was passiert war. Und dann gibt es die Schwindler.
Lars H. ist so einer. Er hat geredet, aber nicht alles war die Wahrheit. Der 46-Jährige versuchte, das Gericht zu manipulieren, sich selbst zum Opfer zu machen und einen kleinen Jungen zum Täter. „Er wollte das alles selber“, sagte H. einmal über Marvin, der heute 17 Jahre alt ist. Er meinte den Missbrauch. Marvin habe alles kontrolliert und H. am Ende in die Alkoholsucht getrieben. Das Gericht glaubt nichts davon.
Am Donnerstag fiel in Bochum nach 15 Monaten und 51 Verhandlungstagen das Urteil in einem, wie Richter Stefan Culemann sagte, ungewöhnlichen Fall. Lars H. aus Recklinghausen muss unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines zwei Jahre lang als vermisst gemeldeten Jugendlichen aus Duisburg neun Jahre ins Gefängnis. Anschließend kommt er in Sicherungsverwahrung. Vermutlich wird H. nie wieder frei sein.
Marvin wurde nur zufällig von der Polizei gefunden. Am 20. Dezember 2019, vier Tage vor Heiligabend, fährt eine Streife zum Haus von H. an der Hochstraße in Recklinghausen. Es besteht der Verdacht, er könnte Kinderpornos besitzen. Eine Polizistin erinnert sich vor Gericht an eine völlig verwahrloste Wohnung. Im Schlafzimmer öffnet sie einen Schrank. Und dort kauert ein Junge auf dem Boden. Es ist Marvin, damals 15 Jahre alt und seit Sommer 2017 vermisst. „Warum musstest du den Schrank aufmachen?“, soll er sofort gesagt haben.
Marvin hatte eine schwierige Kindheit in Duisburg. Sein Vater stirbt früh, immer wieder gibt es Probleme in der Schule. Einmal geht er mit einem Messer auf seine Mutter los. Erst kommt er in die Psychiatrie, dann in eine Wohngruppe nach Oer-erkenschwick im nördlichen Ruhrgebiet. Dort freundet er sich mit einem anderen Jungen an. Gemeinsam machen sie sich einen Spaß daraus, über Facebook ältere Männern zu kontaktieren. Irgendwann landen sie in einer WhatsappGruppe, in der Pädophile über ihre sexuellen Vorlieben sprechen. Auch Lars H. ist Mitglied dieser Gruppe.
Am 1. Juni verabreden sie sich zum ersten Mal in einem Waldstück, eine Woche später besucht Marvin H. in seiner Wohnung. Beide Male kommt es zum Oralverkehr. Das Gericht geht davon aus, dass Marvin das freiwillig tat. H. gab ihm dafür Zigaretten und Geld. Der 46-Jährige war nicht unbekannt in der Hochstraße. Regelmäßig hat er Kinder zu sich nach Hause eingeladen, sie durften Videospiele zocken und Horrorfilme schauen. Ob H. sie dort missbraucht hat, ist unklar. Er prahlte aber und erzählte etwa, er habe auch ein Kind und einst als Soldat im Kosovo gekämpft.
In Wahrheit war das Leben des Mannes ziemlich eintönig. Mit Müh und Not schafft H. den Hauptschulabschluss, eine Lehre zum Maler und Lackierer bricht er ab. Lange ist er arbeitslos und hilft gelegentlich als Haustechniker in einem Altenheim aus. Bereits 2016 finden Ermittler kinderpornografisches Material bei ihm. H. wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dass er bereits damals Kinder angefasst hat, kann man ihm nicht nachweisen.
Marvin zieht nur wenige Tage nach dem Treffen im Wald in das Haus an der Hochstraße – wieder freiwillig. Offenbar hat er Angst, nach Hause zu kommen und dort wieder in die Psychiatrie zu müssen. Ab da, so glaubt das Gericht, missbraucht H. den Jungen fast 500 Mal, mindestens jeden zweiten Tag. In der Wohnung findet die Polizei später Tausende Fotos und Videos. Einige zeigen, dass H. sich an Marvin auch vergangen hat, als dieser geschlafen hat. Der 46-Jährige äußerte sich erst ein Jahr nach Prozessbeginn. Zuvor hatte er lange geschwiegen. Bis zuletzt behauptete er, alles sei Marvins Idee gewesen.
Im Gericht sitzt am Donnerstag auch Marvins Mutter. Eigentlich, so erzählt sie später, wollte sie an allen Prozesstagen kommen. Doch das habe sie sich nicht antun wollen. Marvin lebt jetzt wieder bei ihr und holt die Schule nach. Eines Tages will er It-techniker werden.