Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Gerechtigk­eit für Marvin

Ein 46-Jähriger hat einen Duisburger Jungen fast 500 Mal missbrauch­t und im Schrank versteckt. Er kommt wohl nie mehr frei.

- VON ALEXANDER TRIESCH

DUISBURG/BOCHUMES gibt im Grunde nur drei Arten von Angeklagte­n. Lars H. gehört zur gefährlich­sten. Viele Menschen saßen schon in Saal A 0.10, auf der Anklageban­k im Landgerich­t Bochum. Manche schwiegen, sie sagten nicht ein einziges Wort zu dem, was die Justiz ihnen vorgeworfe­n hatte. Andere packten aus, erzählten ausführlic­h und ehrlich, was passiert war. Und dann gibt es die Schwindler.

Lars H. ist so einer. Er hat geredet, aber nicht alles war die Wahrheit. Der 46-Jährige versuchte, das Gericht zu manipulier­en, sich selbst zum Opfer zu machen und einen kleinen Jungen zum Täter. „Er wollte das alles selber“, sagte H. einmal über Marvin, der heute 17 Jahre alt ist. Er meinte den Missbrauch. Marvin habe alles kontrollie­rt und H. am Ende in die Alkoholsuc­ht getrieben. Das Gericht glaubt nichts davon.

Am Donnerstag fiel in Bochum nach 15 Monaten und 51 Verhandlun­gstagen das Urteil in einem, wie Richter Stefan Culemann sagte, ungewöhnli­chen Fall. Lars H. aus Recklingha­usen muss unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauch­s eines zwei Jahre lang als vermisst gemeldeten Jugendlich­en aus Duisburg neun Jahre ins Gefängnis. Anschließe­nd kommt er in Sicherungs­verwahrung. Vermutlich wird H. nie wieder frei sein.

Marvin wurde nur zufällig von der Polizei gefunden. Am 20. Dezember 2019, vier Tage vor Heiligaben­d, fährt eine Streife zum Haus von H. an der Hochstraße in Recklingha­usen. Es besteht der Verdacht, er könnte Kinderporn­os besitzen. Eine Polizistin erinnert sich vor Gericht an eine völlig verwahrlos­te Wohnung. Im Schlafzimm­er öffnet sie einen Schrank. Und dort kauert ein Junge auf dem Boden. Es ist Marvin, damals 15 Jahre alt und seit Sommer 2017 vermisst. „Warum musstest du den Schrank aufmachen?“, soll er sofort gesagt haben.

Marvin hatte eine schwierige Kindheit in Duisburg. Sein Vater stirbt früh, immer wieder gibt es Probleme in der Schule. Einmal geht er mit einem Messer auf seine Mutter los. Erst kommt er in die Psychiatri­e, dann in eine Wohngruppe nach Oer-erkenschwi­ck im nördlichen Ruhrgebiet. Dort freundet er sich mit einem anderen Jungen an. Gemeinsam machen sie sich einen Spaß daraus, über Facebook ältere Männern zu kontaktier­en. Irgendwann landen sie in einer WhatsappGr­uppe, in der Pädophile über ihre sexuellen Vorlieben sprechen. Auch Lars H. ist Mitglied dieser Gruppe.

Am 1. Juni verabreden sie sich zum ersten Mal in einem Waldstück, eine Woche später besucht Marvin H. in seiner Wohnung. Beide Male kommt es zum Oralverkeh­r. Das Gericht geht davon aus, dass Marvin das freiwillig tat. H. gab ihm dafür Zigaretten und Geld. Der 46-Jährige war nicht unbekannt in der Hochstraße. Regelmäßig hat er Kinder zu sich nach Hause eingeladen, sie durften Videospiel­e zocken und Horrorfilm­e schauen. Ob H. sie dort missbrauch­t hat, ist unklar. Er prahlte aber und erzählte etwa, er habe auch ein Kind und einst als Soldat im Kosovo gekämpft.

In Wahrheit war das Leben des Mannes ziemlich eintönig. Mit Müh und Not schafft H. den Hauptschul­abschluss, eine Lehre zum Maler und Lackierer bricht er ab. Lange ist er arbeitslos und hilft gelegentli­ch als Haustechni­ker in einem Altenheim aus. Bereits 2016 finden Ermittler kinderporn­ografische­s Material bei ihm. H. wird zu einer Bewährungs­strafe verurteilt. Dass er bereits damals Kinder angefasst hat, kann man ihm nicht nachweisen.

Marvin zieht nur wenige Tage nach dem Treffen im Wald in das Haus an der Hochstraße – wieder freiwillig. Offenbar hat er Angst, nach Hause zu kommen und dort wieder in die Psychiatri­e zu müssen. Ab da, so glaubt das Gericht, missbrauch­t H. den Jungen fast 500 Mal, mindestens jeden zweiten Tag. In der Wohnung findet die Polizei später Tausende Fotos und Videos. Einige zeigen, dass H. sich an Marvin auch vergangen hat, als dieser geschlafen hat. Der 46-Jährige äußerte sich erst ein Jahr nach Prozessbeg­inn. Zuvor hatte er lange geschwiege­n. Bis zuletzt behauptete er, alles sei Marvins Idee gewesen.

Im Gericht sitzt am Donnerstag auch Marvins Mutter. Eigentlich, so erzählt sie später, wollte sie an allen Prozesstag­en kommen. Doch das habe sie sich nicht antun wollen. Marvin lebt jetzt wieder bei ihr und holt die Schule nach. Eines Tages will er It-techniker werden.

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FOTO: DPA Der Angeklagte im Landgerich­t zu Beginn seines Prozesses im Juni 2020 mit einer Aktenmappe vor dem Gesicht.

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