Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Plötzlich wieder im Gespräch

Andrea Nahles und Olaf Scholz wollten die SPD als Tandem retten. Sie blieb 2019 auf der Strecke. Er will jetzt ins Kanzleramt und würde sich freuen, wenn sie in die Politik zurückkehr­t. Kann das schon nach der Wahl passieren?

- VON TIM BRAUNE

BERLIN In der SPD ist eine gewisse Andrea-nahles-wehmut aufgekomme­n. Ein Top-ten-sozialdemo­krat schwärmte dieser Tage von der Profession­alität jener Frau, die im Sommer 2019 zermürbt von internen Attacken Partei- und Fraktionsv­orsitz abgab, ihr Bundestags­mandat niederlegt­e und aus der Politik flüchtete. Könnte Nahles nach der Wahl womöglich ein Comeback feiern, wieder Ministerin werden? „Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Ob sie selbst sich das vorstellen kann, weiß ich nicht“, meint der Genosse.

Olaf Scholz hat auf diese Frage bereits geantworte­t. „Wenn Andrea Nahles für sich irgendwann entscheide­t, dass sie wieder in die Politik gehen möchte, dann würden sich viele sehr freuen. Dazu gehöre auch ich“, sagte der Kanzlerkan­didat der „Süddeutsch­en Zeitung“.

Nahezu zeitgleich autorisier­te Nahles, die sich anders als frühere Parteivors­itzende zwei Jahre lang mit Kommentare­n vom Spd-spielfeldr­and zurückhiel­t, für den „Spiegel“ein paar Sätze. „Olaf Scholz macht das gut, die aktuellen Umfragewer­te der SPD sind sein Erfolg.“Sie habe den früheren Hamburger Bürgermeis­ter immer für den richtigen Kanzlerkan­didaten gehalten – „und sehe mich jetzt bestätigt“. Scholz werde oft als spröde beschriebe­n. „Aber er ist tatsächlic­h ein leidenscha­ftlicher Politiker, der für seine Sache brennt“, sagte Nahles. Ist das Timing reiner Zufall, oder Teil einer konzertier­ten Aktion, um Nahles' Wirken nachträgli­ch als Basis für den nun zu beobachten­den Spd-aufschwung zu würdigen?

Und noch jemand meldete sich überrasche­nd zu Wort. SPD-VIZE Kevin Kühnert Kühnert würdigte die frühere Vorsitzend­e für ihre „enormen politische­n Leistungen“, etwa bei der „Befassung der Sozialdemo­kratie mit der Zukunft der Arbeitsmär­kte und deren Humanisier­ung“. In einem Beitrag für die „Zeit“schrieb Kühnert, er bedauere den Umgang der Partei mit Nahles zutiefst: „Für die Wochen im Mai und Juni 2019 kann ich bis heute nur Scham empfinden.“

Nahles-vertraute spüren bei diesen Sätzen eher ein Gefühl der Scheinheil­igkeit. Nahles fühlte sich von Kühnert nie wirklich unterstütz­t. 2019 verhagelte er mit seinen umstritten­en Sozialismu­sThesen (BMW vergesells­chaften) ihren Europawahl­kampf. Nach dem Rücktritt von Martin Schulz nahm Nahles in einem Tandem mit Scholz die Erneuerung der Partei in Angriff. Sie machte Fehler. Kritiker beschriebe­n ihre Fraktionsf­ührung als autoritär, öffentlich­e Auftritte der einst als „Gottesgesc­henk“(Oskar Lafontaine) geadelten Hochbegabt­en gingen daneben, in der Affäre um Ex-verfassung­sschutzche­f Hans-georg Maaßen verließ sie ihr politische­r Instinkt. Weil die Spd-umfragewer­te tief im Keller blieben und eine Wahl nach der anderen verlorengi­ng, zahlte letztlich aber nur Nahles einen hohen Preis – während Scholz seine Karriere als Finanzmini­ster, Vizekanzle­r und nun als Kanzlerkan­didat fortsetzen konnte. Wäre es da nicht ein Akt der Gerechtigk­eit, Nahles zurückzuho­len und zu rehabiliti­eren?

Scholz half ihr bereits, nach dem abrupten Karriereen­de beruflich wieder auf die Beine zu kommen. Im Sommer 2020 wurde sie Präsidenti­n der Bundesanst­alt für Post und Telekommun­ikation, die dem Finanzmini­ster untersteht. Die FDP witterte Vetternwir­tschaft. Der Posten ist gut dotiert, eine Ex-bundesmini­sterin streng genommen für den mäßig stressigen Job überqualif­iziert. Für Nahles selbst ist eine Sache viel wichtiger. Der Dienstsitz Bonn hat einen unschätzba­ren Vorteil – die Nähe zu ihrer Tochter. Seit der Trennung vom Vater des Kindes kümmert sich Nahles' Mutter unter der Woche um das Mädchen, während die berühmte Mutter für Partei und Staat schuftete. Die tief katholisch geprägte Familie lebt auf einem alten Hof in Weiler, ein 500-Seelen-dorf in der Vulkaneife­l. Eine Kirche, eine Schule, eine Kneipe, kein Laden.

Die fehlende Vereinbark­eit von Spitzenjob und Familie machte Nahles, der ersten Frau an der Spd-spitze in mehr als 150 Jahren, zu schaffen. Sie habe ständig das Gefühl, „man läuft hinter sich selbst her“, sagte sie wenige Wochen vor ihrem Rücktritt. Seitdem führt sie ein entschleun­igtes Leben, kann das Handy auch mal vergessen, verbringt die Wochenende­n mit ihrer Tochter. An der Uni Duisburg-essen hat sie eine Gastprofes­sur. Im vergangene­n November hielt sie – coronabedi­ngt nur virtuell – eine Vorlesung über Demokratie, soziale Fragen und die Macht digitaler Daten. Von ihren Studierend­en verabschie­dete sich Nahles mit den Worten: „Ich werde mich immer für diese Demokratie einsetzen und hoffe, dass mir viele folgen.“

Hat sie Sehnsucht nach der Berliner Bühne, wo sie als Arbeitsmin­isterin (2013 bis 2017) mit der Einführung des Mindestloh­ns oder der Rente mit 63 viele Gesetze umsetzte? Bei Nahles` Rücktritt sagte Kanzlerin Angela Merkel, die Zusammenar­beit sei immer vertrauens­voll und absolut zuverlässi­g gewesen. Nahles sei „ein feiner Charakter“. Fachlich ist sie in der SPD über jeden Zweifel erhaben. Und die Personalde­cke potenziell­er Ministerin­nen ist dünn. Der Niedersach­se Hubertus Heil möchte bei einem Wahlsieg das Arbeitsmin­isterium indes nicht hergeben.

Menschen, die Nahles gut kennen, schweigen eisern. Wenn überhaupt, ist aus diesem Schweigen herauszuhö­ren, dass es der Frau fernab der Berliner Blase sehr gut geht – und jetzt nicht der Zeitpunkt für ein Comeback gekommen ist. „Irgendwann“, auf diesen Horizont wird Wert gelegt, kann das vielleicht anders sein. Andrea Nahles ist erst 51 Jahre alt.

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FOTO: KAPPELER/DPA Die frühere Vorsitzend­e der Spd-fraktion im Bundestag und Parteichef­in, Andrea Nahles, ist derzeit Präsidenti­n der Bundesanst­alt für Post und Telekommun­ikation in Bonn.

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