Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Warten auf ein neues Leben

Auf dem Us-luftwaffen­stützpunkt Ramstein bereiten sich 15.700 evakuierte Afghanen auf ihre Ausreise in die USA vor. Ein Besuch.

- VON ARNE BENSIEK

RAMSTEIN „Ich habe keine Ahnung, was für ein Leben vor mir liegt“, sagt Zubair Hakimi. „Ich kann gar nicht denken, ich lasse gerade alles einfach geschehen.“Der 26-Jährige, hellblaues Hemd, gepflegter Vollbart, beige Mütze, steht im Flugzeugha­ngar 5 der Luftwaffen­basis im pfälzische­n Ramstein. Aus Bauzäunen hat das Us-militär in der riesigen Halle neun provisoris­che Abfluggate­s gebaut, einen Terminal für bis zu 2300 Menschen. Durch das geöffnete Hangartor ist das Vorfeld der Airbase zu sehen, auf dem eine Handvoll Flugzeuge darauf wartet, Menschen wie Hakimi in die USA auszuflieg­en – in ein neues Leben fernab von Afghanista­n, aus dem das Us-militär sie evakuiert hat.

Die Sitzreihen des Behelfster­minals sind fast vollständi­g gefüllt. Einige tragen traditione­lle afghanisch­e Gewänder, andere Jeans. Viele haben sich in Decken gehüllt, verfolgen mit müden Blicken, wie Soldaten immer wieder die Zäune öffnen, um neue Familien in den Abflugbere­ich zu bringen. Kinder liegen auf Koffern, einige rennen durch die Reihen, ein Mädchen schiebt ihren Kopf durch den Zaun und bittet einen Soldaten um eine Flasche Wasser.

„Ich hätte nie für möglich gehalten, dass so viele Menschen evakuiert werden“, sagt Zubair Hakimi, der seine kleine Tochter auf dem Arm trägt. Der junge Mann erzählt in verständli­chem Englisch, er habe auf der NATO-BASIS in Kabul als Techniker für die Amerikaner gearbeitet. Seiner Familie sei nur die Flucht geblieben, als die Taliban die Stadt erreicht hätten. Er sei froh, dass er das Land verlassen konnte, bevor es am Flughafen von Kabul zum Anschlag mit mehr als 100 Toten kam. Mit einer deutschen Militärmas­chine seien er, seine Frau, seine zwei Kinder und sein Bruder am 24. August zunächst nach Usbekistan evakuiert worden, dann weiter nach Frankfurt und von dort letztlich auf die Ramstein Airbase gebracht worden.

15.700 Evakuierte warten derzeit auf dem Us-luftwaffen­stützpunkt in der Pfalz auf ihre Ausreise in die USA. Mit mehr als 500 Zelten hat das Militär ein gewaltiges, umzäuntes Camp errichtet, unweit des Flughafent­owers. Großküchen aus den

Umlandgeme­inden unterstütz­en die Airbase bei der Versorgung der Menschen; gebraucht werden mehr als 30.000 Mahlzeiten täglich. Neben den Soldaten sind viele Reserviste­n, Freiwillig­e, US AID und das amerikanis­che Rote Kreuz im Einsatz. „Das ist die größte humanitäre Mission, die ich in meinen 25 Jahren beim Militär gesehen habe“, sagt Colonel Adrienne Williams. Wie lange sie voraussich­tlich dauern wird, das kann die Kommandeur­in des 521. Air Mobility Operations Wing nicht beantworte­n.

Noch immer bringen die klobigen C-17-transportm­aschinen Tag für Tag bis zu 2000 gerettete Afghanen nach Ramstein. Die meisten starten in Usbekistan und Katar. Acht bis zehn Flugzeuge verlassen Ramstein täglich Richtung USA. Der Anspruch der Amerikaner ist es, dass kein Evakuierte­r länger als zehn Tage in Ramstein bleibt. Ausgefloge­n wurden von dort aus bis heute mehr als 14.000 Menschen.

„Wenn ich in die Busse schaue, in denen die Menschen vom Terminal zu den Flugzeugen gebracht werden, dann sehe ich lächelnde Gesichter“, sagt Colonel Williams. „All diese kleinen Kinder, die Familien – sie haben eine große Zukunft vor sich.“Auf einem der Evakuierun­gsflüge sei ein Mädchen geboren worden. „Für mich symbolisie­rt das Hoffnung, denn die Möglichkei­ten, die sie haben wird, sind phänomenal“, schwärmt Williams. Dass der abrupte Abzug der Amerikaner aus Afghanista­n diese Menschen erst in Gefahr gebracht und viele sogar das Leben gekostet hat, darauf mag die Kommandeur­in nicht eingehen. „Wir retten hier Leben“, stellt Williams klar.

Andy Halus, der vom Us-konsulat in Frankfurt am Main nach Ramstein abkommandi­ert ist, beteuert, das Us-militär wisse sehr genau, wen es aus Afghanista­n evakuiert habe. Berichte über Afghanen, die sich zu unrecht auf deutschen Evakuierun­gslisten befunden hätten, mag der Sprecher nicht kommentier­en. „Hier läuft ein sehr gewissenha­fter und gründliche­r Prozess, in dem alle Ankommende­n identifizi­ert und gecheckt werden“, erklärt Halus. An diesem Prozedere seien Militär, Verteidigu­ngsministe­rium, Department of Homeland Security, Geheimdien­st, FBI und Zoll beteiligt. Priorität bei der Evakuierun­g hätten amerikanis­che Staatsbürg­er, Greencard-besitzer und Menschen, die für das Us-militär gearbeitet haben und daher schutzbedü­rftig seien. „Mir ist bisher kein Fall bekannt, in dem ein Evakuierte­r aus Sicherheit­sgründen oder anderen Bedenken nicht ausgefloge­n wurde“, so Halus.

Ali Zahawi, ein 25-jähriger Mann mit buntem Dubai-cappy, wartet gemeinsam mit seiner Frau und seinen vier Kindern im Hangar 5 auf den Abflug in die Heimat. „Wir sind amerikanis­che Staatsbürg­er, leben eigentlich in Salt Lake City und waren für die Hochzeit meiner Cousine in Kabul“, berichtet er. Niemals habe er erwartet, dass sich die Lage in dem Land, in dem er geboren wurde, so schnell zuspitzen könnte. „Abends habe ich im Fernsehen noch Joe Biden gesehen, der sagte, Kabul sei auf Monate hin sicher, und am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und überall waren Taliban in der Stadt“, schildert Zahawi. „Wir wussten nicht, was wir tun sollen und sind zum Flughafen gelaufen.“

Dank der Us-pässe seien seine Familie und er schnell nach Katar evakuiert worden und eine Woche später weiter nach Ramstein. „Mein Eindruck ist, dass niemand hier glücklich ist“, sagt Zahawi und schaut auf die Reihen der Wartenden. Der Schock über die Eskalation der Lage in Afghanista­n überwiege eindeutig die Zuversicht auf ein Leben in Sicherheit in den USA. Viele Familien hätten Angehörige zurücklass­en müssen und seien nun in großer Sorge.

Zubair Hakimi, der seine elfmonatig­e Tochter Usra noch immer auf dem Arm durch das Behelfsgat­e trägt, berichtet: „Ich habe vorhin mit einer Frau gesprochen, deren Mann nach Frankreich evakuiert worden ist.“Vom Us-militär habe sie erfahren, dass ihr dennoch nur die Ausreise in die USA bleibe. So seien derzeit die Regeln. Dass unter den evakuierte­n Afghanen in Ramstein auch einige seien, die nicht für die Amerikaner oder andere Nato-truppen gearbeitet haben, könne er mit Gewissheit sagen. „Es ist vielleicht nicht richtig, aber ich kann verstehen, dass sie keine Zukunft in Afghanista­n sehen, wenn die Taliban an der Macht sind“, sagt Hakimi.

Er selbst hoffe, dass er in den USA in seinem bisherigen Beruf als Techniker Arbeit finde. Wo Hakimi und seine Familie landen werden, wissen sie noch nicht. Dallas und Philadelph­ia sind die Destinatio­nen, in die das Us-militär die Evakuierte­n derzeit ausfliegt. Hakimi erzählt, er halte per Whatsapp Kontakt zu einem ehemaligen amerikanis­chen Soldaten, mit dem er in Kabul zusammenge­arbeitet habe. „Vielleicht kann er mir helfen“, hofft der Familienva­ter. Wichtiger als sein eigenes Schicksal sei ihm allerdings der Frieden in Afghanista­n. „Aber das liegt nicht im meiner Hand, das liegt in Gottes Hand.“

„Das ist die größte humanitäre Mission, die ich in meinen 25 Jahren beim Militär gesehen habe“Adrienne Williams Colonel

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FOTOS: ARNE BENSIEK Zubair Hakimi und seine Tochter warten auf dem Luftwaffen­stützpunkt Ramstein in Hangar 5 auf ihren Abflug in die USA .
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FOTO: UWE ANSPACH/DPA Us-soldaten gehen mit Einkaufswa­gen an Zelten vorbei.

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