Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Bin ich schon drin oder was?

ANALYSE Wegen der Pandemie, und weil das Jahr 2021 ist, soll der Bundestags­wahlkampf so digital sein wie noch nie, heißt es. An Wesel muss dieser Trend vorbeigega­ngen sein. Man kann nicht behaupten, dass die Kandidaten das Potential des Internets ausschöp

- VON HENNING RASCHE

Das Internet ist ein mystischer Ort. Für manche ist es streng genommen gar kein Ort, sondern ein Hilfsmitte­l, um Filme zu schauen oder Mails zu verschicke­n. Für andere, zu ihnen gehört das politische Berlin, ist das Internet der Place to be. Wer nicht twittert, wird nicht gesehen. Wer seinen Alltag nicht auf Instagram präsentier­t, dessen Alltag hat gar nicht stattgefun­den. Und wer glaubt, etwas zu sagen zu haben, der startet einen Podcast.

Mystisch wird das Internet nun deshalb, weil insbesonde­re diejenigen, die dort einen Großteil ihrer Zeit verbringen, dazu neigen, die Bedeutung ihrer dortigen Aktivitäte­n zu überschätz­en. Nur weil 2000 Leuten auf Twitter etwas gefällt, heißt das nicht, dass dieses Etwas richtig ist oder wichtig. Vor der Bundestags­wahl ist das Internet ein ungemütlic­her Ort, weil alle noch viel mehr recht haben wollen.

Doch stopp. Wer sich nun gemütlich zurücklegt und sich auf der sicheren Seite wähnt, weil er ja schon immer geahnt hat, dass das Internet überbewert­et wird, irrt ebenfalls.

Die digitalen, nun ja, Debatten haben auf die öffentlich­e Meinung einen nicht unerheblic­hen Einfluss, was schon daran liegt, dass sich gerade bei Twitter viele Journalist­en herumtreib­en. Aber auch im Kampf um ein Direktmand­at kann man im Jahr 2021 nicht mehr auf das Internet mit seinen digitalen Netzwerken verzichten. Denn was macht man schon, wenn man einen Namen noch nie gehört hat? Klar, googeln.

Wie also schlagen sich die Direktkand­idaten im Wahlkreis Wesel I in den digitalen Netzwerken, in den Tiefen des Internets? Ein Blick durch Facebook, Instagram, Twitter, Youtube und Tiktok zeigt Bemühungen einzelner Politiker und ihrer Parteien – aber auch viel Luft nach oben.

Zahlen

Wie viele Personen den Kandidaten auf den einzelnen Plattforme­n folgen, ist nicht ganz unwichtig, entscheide­t die Zahl schließlic­h über ihre Reichweite. Über Tiktok und Youtube, zwei der wichtigste­n Portale unter jüngeren Menschen, brauchen wir an dieser Stelle nicht weiter reden. Keiner der Kandidaten verfügt dort über eigene Kanäle. Bloß Hans-peter Weiß von den Grünen ist über den Kanal der Grünen Voerde auf Youtube mit einigen Videos vertreten, kommt dort aber auch nicht auf relevante Aufrufzahl­en.

Addiert man die Follower bei Facebook, Instagram und Twitter, liegt der Fdp-politiker Bernd Reuther im Wahlkreis Wesel I mit Abstand vorne. Bei allen drei Netzwerken liegt er knapp unter 2000. In der Rangliste folgt: Rainer Keller, SPD. Vor allem seine fast 3000 Facebook-fans sichern ihm mehr Reichweite als der derzeitige­n Abgeordnet­en Sabine Weiss von der CDU. Sie hat knapp 2000 Facebook-fans und 743 bei Instagram, bei Twitter ist sie nicht. So richtig aktiv ist dort eigentlich nur Bernd Reuther. Keller und Weiß haben bei Twitter 33 beziehungs­weise sechs Follower.

Aktivität

Nun ist es mit bloßer Anwesenhei­t nicht getan, nicht einmal mit einer Vielzahl von Nutzern. Man muss schon aktiv sein – und das im besten Falle mit Charakter und Pfiff ( Verzeihung für dieses sehr analoge Wort). Auch hier gehen die Kandidaten sehr unterschie­dlich vor.

Sabine Weiss, direkt gewählte Abgeordnet­e seit 2009 und parlamenta­rische Staatssekr­etärin seit 2018, verbreitet bei Instagram und Facebook vor allem Kacheln. Dort wirbt sie für Wahlkampfs­tände in Alpen oder Schermbeck und teilt die üblichen Wahlkampfs­logans der CDU. „Machen, was Arbeit schafft“, zum Beispiel oder: „Wir sind überzeugte Europäer.“Für lebhafte Reaktionen sorgt das eher selten. Auf ihrer Facebook-seite stehen vereinzelt gehässige Kommentare unter ihren Beiträgen. Einer stellt Weiss eine Frage, ein anderer schreibt dazu:„die antwortet hier eh nicht, Facebook ist für sie nur ein weiterer Briefkaste­n für Wurfsendun­g. Altbacken.“Das klingt hart, ist aber inhaltlich nicht ganz falsch. Mit der entscheide­nden Ergänzung: Andere machen es auch nicht immer besser.

Bernd Reuther, der Mann, der die Netzwerk-statistik im Wahlkreis anführt, schreibt auf Twitter selten selbst, sondern verbreitet häufig die Aussagen seines Parteichef­s oder anderer Fdp-kollegen. Im Wahlkampf zeigt er sich auf Instagram als geschäftig­er Mann, der Betriebe besucht und im Gespräch ist (und Fußball spielt) – und mit Christian Lindner, der kürzlich in KampLintfo­rt war. Neuerdings finden sich auf seinem Instagram-kanal auch Videos, die offensicht­lich profession­ell produziert sind und sich mit Wirtschaft, Bildung und Verkehr beschäftig­en. Sie wirken aber mehr wie Wahlwerbun­g und weniger wie direkte Ansprache. Moderne Kommunikat­ion (nicht nur im Internet) findet auf Augenhöhe statt – und ist an den Antworten und Reaktionen interessie­rt.

Bei dem Grünen Hans-peter Weiß gibt es auch mal Tier- und Urlaubsfot­os oder ein Selfie vom Parteitag zu sehen. Die Bilder sind wackeliger und unprofessi­oneller – dafür aber authentisc­her.

Rainer Keller postet auf Facebook Tweets, was ein bisschen merkwürdig ist, aber den unterschie­dlichen Zielgruppe­n Rechnung trägt – Twitter und Instagram etwas jünger, Facebook etwas älter. Man erlebt bei Kellers Auftritt die ursozialde­mokratisch­e Realität, die in Gremiensit­zungen und vor Real-märkten stattfinde­t. Zumindest bei letzterem trifft man auch den Teil, der nicht zu viel Zeit im Internet verbringt. Keller teilt Olaf-scholz-fotos, aber eben auch Bilder mit seinem Sohn oder von seinem Drk-einsatz bei Eselrock-konzerten.

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FOTO: DPA

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