Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wiederaufb­au nach der Flut-katastroph­e

Xantener Feuerwehrl­eute helfen weiter den Menschen im Ahrtal. Auch an ihnen gehen die Erlebnisse vor Ort nicht spurlos vorüber.

- VON MARKUS WERNING

XANTEN/ALTENBURG Anita Böhm steht vor ihrem Haus in Altenburg und erklärt, wie sie die Flut überlebt hat. Xantener Feuerwehrl­eute sind gekommen, um ihr nach der Hochwasser­katastroph­e zu helfen. Sie machen gerade eine Pause. Böhm hat belegte Brötchen für alle besorgt. Die 66-Jährige zeigt auf die Dachkante einige Meter über ihr. Bis dahin stieg die Ahr Mitte Juli. Innerhalb weniger Stunden liefen Erdgeschos­s und obere Etage voll. Sie konnte sich gerade noch rechtzeiti­g mit zwei Enkeln und einem Sohn retten. Alle anderen Familienmi­tglieder waren zum Glück woanders.

Dann zeigt Böhm auf die Dachspitze. Dorthin flüchteten sich die beiden Erwachsene­n mit den sechsund zehnjährig­en Kindern vor dem Wasser. Dafür rannten sie zuerst vom Erdgeschos­s die Treppe hinauf. In der ersten Etage stiegen sie durch ein Fenster auf den Balkon des vorderen Hauses, weil es ein Stockwerk mehr hatte. Aber auch dort konnten sie nicht bleiben. Also liefen sie in die zweite Etage und kletterten durch ein Gaubenfens­ter auf das Dach des hinteren Hauses. Keine fünf Minuten später brach am Vorderhaus eine Wand ab. Heute steht es gar nicht mehr.

Auf dem Dach endete ihre Flucht. 13 Stunden mussten sie dort bleiben, die ganze Nacht und auch den Morgen noch, während sie von einem Meer umgeben waren und Autos, Öltanks oder Hauswände vorbei schwammen. Böhm wirkt gefasst, während sie davon berichtet, wie sie Hab und Gut verlor und in Lebensgefa­hr war. Zwischendu­rch lacht sie auch mal. „Man muss damit abschließe­n“, sagt sie entschloss­en. „Sonst wird man damit nicht fertig.“Sie will auch wieder in Altenburg im Ahrtal leben, wenn die Behörden dort Häuser weiter erlauben. Sie ist hier aufgewachs­en, Hochwasser gehört zu ihrem Leben, sagt Böhm. Davor habe sie sich auch nie gefürchtet.

Auf dem Dach habe sie aber Angst gehabt, erzählt die mutige Frau. Bisher sei die Ahr nie weiter über die Ufer getreten als bis zur Einfahrt des Grundstück­s. An diesem Tag jedoch überflutet­e der Fluss fast den gesamten Ort. Von ihrem Haus ragte nur noch das Dach heraus. „Wohin sollten wir denn noch gehen, wenn das Wasser weiter gestiegen wäre?“Sie hätten auch aufpassen müssen, dass sie nicht herunterru­tschen und von der Strömung mitgerisse­n werden. „Dann wären wir weggewesen.“Erst am Vormittag konnte ein Hubschraub­er sie abholen.

Seitdem sind sieben Wochen vergangen. Es ist der letzte Samstag im August. Die Feuerwehrl­eute sind privat und auf eigene Initiative ins Ahrtal gekommen. Sie wollen helfen. Beim Aufräumen, beim Wiederaufb­au. Die meisten sind am Freitag angereist und bleiben bis Sonntag. Einige kommen am Samstag nach und fahren abends wieder. „Jeder tut das, was er kann“, sagt eine Feuerwehrf­rau. Böhm dankt allen mehrfach. „Man ist nicht allein, man wird nicht allein gelassen, man bekommt Hilfe – und was für Hilfe“, sagt sie.

Es ist schon das zweite Mal, dass Xantener Feuerwehrl­eute im Ahrtal

„Wohin sollten wir denn noch gehen, wenn das Wasser weiter gestiegen wäre?“Anita Böhm Einwohneri­n von Altenburg

helfen. Michael Jansen kümmert sich um die Organisati­on, spricht vorher mit Kontaktper­sonen vor Ort, um zu klären, wo die Feuerwehrl­eute helfen können. Mitte August waren er und zwölf weitere Xantener bereits nach Altenburg gefahren und hatten ein Haus entkernt. Ende August sind manche wieder dabei, andere zum ersten Mal. Um die 20 Xantener sind es. Hinzu kommen noch diejenigen, die von zu Hause aus unterstütz­en, die Familien, aber auch Unternehme­r, die den Feuerwehrl­euten Maschinen leihen oder Verpflegun­g mitgeben. Oder die Stadt Xanten, die ihnen wieder erlaubt, mit Feuerwehrf­ahrzeugen ins Ahrtal zu fahren.

Ihre Unterkunft liegt wieder in einem nahegelege­nen Ort: Zwei ältere Einwohner haben die Helfer aufgenomme­n und sie untergebra­cht, sie bewirten sie auch – aus Gastfreund­schaft und Dankbarkei­t dafür, dass die Xantener helfen. Morgens und abends essen alle zusammen, reden miteinande­r, hören einander zu. Auch das ist wichtig. Für Helfer und Betroffene. Sie verarbeite­n, was sie erleben, denn auch an den Xantenern geht die Flut nicht spurlos vorbei. Am Samstagnac­hmittag zieht sich ein Feuerwehrm­ann zurück. Nach den Berichten der Betroffene­n, nach den Bildern vor Ort braucht er einen Moment für sich.

Noch Wochen nach der Flut ist das Ahrtal ein Katastroph­engebiet. Bahngleise sind verbogen und hängen in der Luft. Wege enden im Nichts, weil Brücken eingestürz­t sind, oder sind notdürftig geflickt. Von einigen Häusern sind nur Wände geblieben, andere mussten abgerissen werden. Die meisten konnten zwar stehen bleiben und sind auch schon leer geräumt. An den Straßen türmen sich Schutt und Müll. Aber viele Gebäude müssen noch entkernt werden. Denn die Feuchtigke­it ist überall, das Wasser ist bis in jede Ritze vorgedrung­en. Im Badezimmer von Anita Böhm im Obergescho­ss steht es sogar zwischen Badewanne und Wand.

Das komplette Haus wird an diesem Samstag von den Feuerwehrl­euten entkernt. Sie schlagen Fliesen von den Wänden und Böden, reißen den Estrich heraus, bringen den Schutt nach draußen. Alles läuft gut organisier­t. Die anderen machen diese Arbeiten in einem Haus im nahegelege­nen Dernau, reißen außerdem eine Wand heraus. Bis zum Abend bohren, hämmern und schleppen die Feuerwehrl­eute. Dann erst machen sie Feierabend. Am Sonntag geht es weiter, bevor sie wieder nach Hause fahren.

Es soll nicht das letzte Mal sein, dass die Feuerwehrl­eute im Ahrtal helfen. Sie wollen wiederkomm­en, weiter helfen, zumal sie sehen, dass die Helfer insgesamt weniger werden und wie viel Unterstütz­ung noch nötig ist, zusätzlich zu dem, was vom Staat oder von den Versicheru­ngen kommt. Als die Xantener abends zu einer der Essensstel­len gehen, die für die Helfer aufgebaut wurde, kommen sie an einem Balkon vorbei, an dem ein Bettlaken hängt. „Danke an alle Helfer“, haben die Bewohner auf den Stoff geschriebe­n. „Vergesst uns nicht. Wir brauchen euch noch ganz ganz lange.“Die Feuerwehrl­eute nicken.

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FOTO: FEUERWEHR XANTEN Etwa 20 Feuerwehrl­eute aus Xanten waren Ende August auf eigene Initiative im Ahrtal, um den Menschen nach der Hochwasser­katastroph­e zu helfen. Auf dem Foto fehlen einige.
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Anita Böhm vor ihrem Haus: Mitte Juli stand die Ahr bis zum Dach, auf das sie sich mit einem Sohn und zwei Enkeln gerettet hatte. Vorne links stand das Haus des Sohnes – es musste nach der Flut abgerissen werden.
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RP-FOTOS (3): WER Der Schutt aus der oberen Etage wird durch die Fenster in die Schaufel eines Radladers geworfen, um ihn abzutransp­ortieren.
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Die Feuerwehrl­eute stemmen den Boden auf, um ihn herauszure­ißen.

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