Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Nehmt Euch Zeit zum Lernen!
Viele verstehen ihr Studium als Turbo-ausbildung. Dabei kommt es darauf an, Details und Zusammenhänge zu begreifen. Dazu braucht es Zeit.
Höher, schneller, weiter – unsere heutige Leistungsgesellschaft diktiert diesen Grundsatz überall und immer. In nahezu jedem Lebensbereich überschlagen sich die Fortschritte, alles soll noch rascher und besser funktionieren. Was nicht fix und präzise genug ist, veraltet und kommt weg. An einer Spitze dieses Wachstums befinden sich die Universitäten und Hochschulen. Hier sollen Studierende in möglichst kurzer Zeit ihr Pensum absolvieren, am besten noch mit herausragender, genialer Leistung. Schließlich ist ja keine Zeit zum Trödeln.
Als ich zu Beginn des Studiums das Arbeitstempo meiner Mitstudierenden kennenlernte, entmutigte mich das. Gefühlt brauchte ich für alles länger, Zusammenhänge erschlossen sich mir langsamer, und bei konkreten Aufgaben und Projekten war ich der letzte, der fertig wurde. Als ich mich und mein Arbeitsverhalten besser durchschaute, erkannte ich irgendwann: Ich bin langsam, aber dafür gründlich. Eine Bestätigung dafür erhielt ich, als mir klar wurde, dass es sich immer um eine gewisse Art von Kompromiss handeln wird: Zum einen kann ich mir komplexes Wissen schnell aneignen und damit mehr oder weniger sofort in einem gewissen Rahmen arbeiten, muss dafür aber in Kauf nehmen, Details nicht zu begreifen. Die andere Möglichkeit ist das langsame und gründliche Verstehen, welches mich danach befähigt, selbstständig Probleme zu lösen und das Erlernte in eigener Verantwortung in neue Kontexte zu setzten. Nachteil ist hier eben, dass es wirklich lange dauern kann, bis man alles im eigenen Tempo nachvollzogen hat.
Für Situationen, in denen Probleme auftreten können, bedeutet das: Sofern ich möglichst umfassende Kenntnisse habe, weiß ich mich in komplexen Sachverhalten zu orientieren, genauso wie ich Regeln und Besonderheiten gelernt habe, die mir helfen, richtige Entscheidungen zur Fehlerbehebung zu treffen. Je länger ich Zeit für mein Verständnis investiere, desto nachhaltiger wird es.
Betrachte ich nun wieder den überdimensionalen Input in meinem Studium, so hat es etwas Entschleunigendes, gar Beruhigendes, sich Zeit für ein Thema zu nehmen. Man kümmert sich um etwas, hört zu, verbringt Zeit damit, lernt Dinge kennen und baut regelrecht eine Beziehung zu einem Sachverhalt auf. Und wenn man es letztendlich nach geschätzt
100 Jahren kapiert hat, ist das für mich ein Erfolgserlebnis, welches mich erst recht motiviert, weiterzulernen. Man hat sich Wissen angeeignet, trägt es mit sich herum, ist erhellt und letztendlich stolz und glücklich, etwas so Schweres verstanden zu haben.
Nehmt euch mehr Zeit.