Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Fragwürdig­es „Versuchska­ninchen“

- VON WOLFRAM GOERTZ

In Zeiten des Wahlkampfe­s taucht regelmäßig ein schönes Wort wieder auf – nämlich die Blöße, die sich niemand geben sollte, der in ein Amt strebt. Man schreibt nirgendwo ab und lacht auch nicht im falschen Moment. Und der im politbarom­etrischen Höhenrausc­h offenbar zur Unachtsamk­eit neigende Olaf Scholz sollte Vokabeln rund ums Impfen weniger leichtfert­ig platzieren.

Vielleicht war ihm daran gelegen, die Strenge des Karl Lauterbach, der unentwegt seine Lieblingsf­arbe Schwarz an die Wand malt, durch eine griffige Wortwahl freundlich­er zu gestalten. Jedenfalls wollte er die Leute zum Impfen animieren und ließ das Wort „Versuchska­ninchen“in die Debatte hoppeln; dies seien jene 50 Millionen bereits geimpfte Deutsche gewesen, die eine gewaltige und erfolgreic­he Testmenge für jene darstellen, die bisher abgewartet haben.

Technisch ist Scholz mit der Formulieru­ng nicht im Unrecht. Die Phase vier jeder Medikament­en- und Impfstoffs­tudie ist die fortlaufen­de Realzeit, in welcher das Mittel auf dem Markt ist; trotzdem halten die Fachleute weiterhin nach, ob die Produkte ihr Ziel erreichen, und kontrollie­ren neue, noch unbekannte Nebenwirku­ngen. Das nennt man Pharmakovi­gilanz.

Anderersei­ts trägt die Debatte ums Impfen längst die Züge des Irrational­en und Glaubenskr­iegerische­n – und in solch unentspann­ten Situatione­n sind legere, unscharfe, saloppe Formulieru­ngen Wasser auf die Mühlen derer, denen an genauer Argumentat­ion nicht gelegen ist. „Versuchska­ninchen“war kein einziger Impfling in Deutschlan­d. Jeder hat sich auf ein Mittel verlassen dürfen, das ordnungsge­mäß getestet wurde.

Bei einem künftigen Kanzler möchten wir uns darauf verlassen dürfen, dass er keine Metapher auffährt, die ihr Ziel ins Gegenteil verkehrt. Das Wort vom „Versuchska­ninchen“hat etwas Demotivier­endes. BERICHT STREIT UM KURS IN DER CORONA-SPÄTPHASE, POLITIK

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