Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Das verhängnisvolle „Weiter so“
ANALYSE Im Wahlkampf spricht keine Partei den hohen Reformbedarf speziell bei den sozialen Sicherungssystemen an, der sich nach 16 Merkel-jahren angestaut hat. Dabei sind die Herausforderungen insgesamt heute sogar größer als zu Zeiten der rot- grünen Sch
BERLIN Olaf Scholz eilt Armin Laschet in den jüngsten Umfragen von ARD und ZDF davon – ein Ampelbündnis aus SPD, FDP und Grünen oder eine rot-grün-rote Koalition unter einem Bundeskanzler Scholz rücken damit näher. In weiten Teilen der Wirtschaft löst vor allem das mögliche Linksbündnis Alarmstimmung aus. Der heutige Vizekanzler Scholz ist zudem kein neues Gesicht, seine SPD in den vergangenen Jahren deutlich nach links gerückt. Eine effektive Reformagenda, die darauf zielt, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit trotz des demografischen Wandels und der Klimakrise zu sichern, ist der SPD in den kommenden vier Jahren kaum zuzutrauen.
Ähnlich ließe sich das allerdings auch für die Wettbewerber sagen: Bis auf die FDP, die dies zumindest ansatzweise tut, adressiert keine Partei den hohen Reformbedarf in den sozialen Sicherungssystemen, bei Verwaltung, Energiepolitik und Digitalisierung, der sich nach 16 Jahren Angela Merkel angestaut hat. Die Dividende der Schröderschen Hartz-reformen wurde in den vier Merkel-perioden nahezu verbraucht, Schritte zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit wurden unterlassen. Merkels drei große Koalitionen streuten lieber Geld unter die Leute, das im zehnjährigen Aufschwung nach der Finanzkrise und durch den beständig steigenden Beschäftigungsstand erwirtschaftet wurde. Missstände wurden nicht durch strukturelle Veränderungen bekämpft oder behoben, lieber klebte die Regierung einfach Pflaster drauf – mit neuen Förderprogrammen oder höheren Sozialleistungen.
Die rot-grüne Regierung unter Schröder stand Anfang der 2000er Jahre mit dem Rücken zur Wand: Die hohe und weiter steigende Arbeitslosigkeit stellte die Finanzierung der Sozialversicherungen infrage. SPDKanzler Schröder rang sich schließlich zu den größten Sozialreformen seit dem Zweiten Weltkrieg durch, Hartz IV wurde eingeführt und das Rentenalter auf 67 angehoben. Der entscheidende Unterschied heute zu damals ist: Der Arbeitsmarkt blieb trotz aller Krisen robust und sichert dem Staat bis heute steigende Beitrags- und Steuereinnahmen. Auch in den kommenden Jahren wird das wohl so bleiben. Das Vertrackte daran: Es verdeckt den dennoch gewachsenen Reformbedarf, es ermöglicht den Politikern, wegzuschauen und den Menschen ein verhängnisvolles „Weiter-so“zu versprechen.
Anders als Rot-grün vor fast 20 Jahren hat die nächste Regierung mit Herausforderungen zu tun, die verglichen mit damals sehr viel größer wirken: Die Klimakrise bedroht das menschliche Leben unmittelbar. Nicht-handeln ist keine Option. Hinzu kommt der demografische Wandel, der sich drastisch beschleunigt hat. Die Erwerbspersonenzahl schrumpft künftig deutlicher, während zugleich die Zahl der Rentenversicherten erheblich anschwellen wird. Hinzu kommen der Digitalisierungsrückstand, der die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen bedroht, der Vormarsch autokratischer Regime, allen voran Chinas, das sich weltweit Rohstoffe sichert, an die freie Länder wie Deutschland womöglich bald nicht mehr herankommen. Alle diese Mega-trends gilt es gleichzeitig zu bewältigen. Wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) jüngst zeigte, sehen sich über 70 Prozent der größeren deutschen Unternehmen mit den Umbauprozessen Dekarbonisierung, Digitalisierung, Demografie und Protektionismus gleichzeitig konfrontiert.
Vor diesem Hintergrund wäre ein „Weiter so“oder Draufsatteln bei den staatlichen Sozialleistungen, wie es SPD, Grüne und Linke versprechen, eine unangemessene zusätzliche Belastung. Dies gilt insbesondere für die Rentenversicherung. Die Rente mit 63, die Erhöhung der Mütterrenten und die Corona-krise haben die Rücklagen der Rentenkasse aufgezehrt – nun drohen steigende Rentenbeiträge und das Absinken des Rentenniveaus früher, als wegen der Alterung ohnehin bereits angenommen worden war. Der berühmte Generationenvertrag wurde sehr zu Ungunsten der Jungen längst aufgekündigt.
„Beim Thema Rente will keine der Parteien Farbe bekennen. Das ist im Wahlkampf verständlich, aber fatal. Ohne Reform, das heißt ohne Reduzierung der Rentenansprüche, Steigerung der Beitragssätze oder Erhöhung des Renteneintrittsalters, wird es nicht gehen“, sagt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer. „Bleibt alles beim Alten, dann werden wir schon 2045 knapp 55 Prozent des Bundeshaushalts für die Bezuschussung der Rente ausgeben müssen, das ist doppelt so hoch wie heute. Da bleibt kein Geld für Bildung, Infrastruktur, Klimaschutz und Digitalisierung übrig“, warnt die Münchner Ökonomin.
„Wollte man die Sozialbeiträge bei 40 Prozent eines Bruttomonatslohns stabilisieren, was mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im ohnehin herausfordernden Strukturwandel wichtig ist, dann erforderte das bereits im Jahr 2025 einen Steuerzuschuss von zusätzlich über 45 Milliarden Euro, wenn es nicht zu Reformen in den Systemen kommt“, sagt auch IW-DIrektor Michael Hüther.
Scholz und Laschet sind Profis. Sie werden wissen, was da auf Deutschland zukommt. Politiker neigen aber zum einfachsten Weg. Der wäre: Einfach noch mehr neue Schulden zu machen, um die größer werdenden Löcher in den Sozialkassen mit Haushaltsmitteln zuzukleistern. Das aber wäre die schlechteste aller Lösungen – egal, wer am Ende ins Kanzleramt einzieht.