Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Einfach nur liegen
ESSAY Entschleunigen muss man nicht nur können und wollen, sondern auch dürfen. In China gerät jeder ins Visier der Partei, der weniger arbeiten und mehr auf sich achten will. Und auch hierzulande wird Arbeit gern verklärt.
Wenn Loriot in China populär wäre, dann nur für kurze Zeit. Denn bevor man sich versähe, stünde der Humorist auf dem Index der Kommunistischen Partei samt angeschlossener Behörden und Staatsmedien. Nicht wegen der Jodelschule oder der Herren im Bad, nicht wegen der Steinlaus oder Weihnachten bei Hoppenstedts. Sondern wegen des Feierabends, den Zeichentrick-musterbürger Hermann im gleichnamigen Sketch genießen will. Indem er nicht spazieren geht, nichts liest, nicht rätselt, nicht spricht, nicht fern- oder auch nur aus dem Fenster sieht. Später vielleicht, danke. Gerade will er einfach nur sitzen.
Der Sketch passt zu Loriots kokettem Bonmot „Wie jeder vernünftige Mensch bin ich von Natur aus faul“. Die beschriebene Reaktion auf Künstler und Werk in China ist eine Unterstellung. Aber eine gut begründete. Denn die dort schrankenlos herrschende Kommunistische Partei hat einen neuen Feind ausgemacht: die Tangping-bewegung. Die ist weder politisch noch religiös motiviert, schon gar nicht ist sie gefährlich. Tangping heißt „sich flach hinlegen“. Weniger müssen müssen. Einfach nur liegen. Das behagt der Partei überhaupt nicht. Entschleunigung ist ziviler Ungehorsam, das ganze Konzept der Work-life-balance ist, um mit George Orwell zu sprechen, gefährlich nahe am „Gedankenverbrechen“. Eine egozentrische, also zwangsläufig asoziale Auflehnung gegen den von Staatspräsident Xi Jinping propagierten „Chinesischen Traum“. Der einzige „Weg zum Glücklichsein“ist hochoffiziell definiert als: Arbeit. Auf dass China zu den USA auf- und sie möglichst überholen möge. Und das passiert eben nicht im Schlaf. Entsprechend argwöhnisch wurden die Zensoren, als ein junger Mann namens Luo Huazhong online seine Vita samt Lebensphilosophie beschrieb: Vor fünf Jahren habe er seinen eintönigen Job als Fabrikarbeiter geschmissen und auf dem Fahrrad das halbe Riesenreich erkundet. Seitdem arbeite er nur so viel wie unbedingt nötig – und lege sich regelmäßig hin. Zum Lesen, Tagträumen, oder einfach Nichtstun. Wie zur Rechtfertigung verwies er auf Buddha sowie den griechischen Philosophen Diogenes in seiner Tonne.
Das stößt auf große Resonanz bei den Opfern des in vielen chinesischen Konzernen angesagten „996-Systems“: Arbeit von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, sechs Tage die Woche. Macht 72 Stunden. Minus Pausen. Plus Überstunden. Macht am Ende oft: 72 Stunden. Oder mehr. Das war hierzulande auch mal üblich – vor 150 Jahren. Inzwischen schreibt die EU eine maximale Arbeitszeit von 48 Stunden vor.
Derlei Dekadenz will man in China um jeden Preis vermeiden, zumal dem überalterten Staat ein massiver Mangel an Arbeitskräften droht. Deshalb wird die Tangping-subkultur erstickt. Der Eintrag von Luo Huazhong („Ich habe gechillt. Ich denke nicht, dass daran etwas falsch sein könnte.“) ist gelöscht, die Suche nach „Tangping“technisch erschwert, der Verkauf etwa von entsprechenden T-shirts verboten.
Doch Überarbeitung ist kein exklusives Problem der kollektivistischen Gesellschaften etwa in China, Japan und Südkorea. Auch im Westen wird fleißig ignoriert, dass sich der Arbeitsalltag schon seit Jahren massiv verdichtet und schleichend in die Freizeit vordringt. Bei jedem zarten Beginn einer Debatte krakeelt garantiert jemand: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“Die Ansage von Apostel Paulus im Alten Testament war bei den ersten britischen Siedlern in den heutigen USA ebenso beliebt wie bei Lenin und den Nazis. Doch keiner verlangt ein Recht auf laues Leben auf
Kosten der Allgemeinheit, sodass die Fleißigen die Dummen sind. Niemand fordert, der Industrie- und Export-gigant Deutschland solle plötzlich alles anders machen und sich am „Bruttonationalglück“orientieren wie das winzige Königreich Bhutan.
Es geht um viel weniger: Die auch hierzulande populäre Verklärung von Arbeit, Stress und Schlafmangel gehört zunächst einmal als solche benannt. Ovid hatte schon Recht: „Nimm dir Zeit – ein Acker der ausruhen konnte, liefert eine prächtige Ernte.“Doch es ist ja so: Wer „zu oft“am helllichten Tag durch die Straßen schlendert, statt zu arbeiten, erntet argwöhnische, teils böse Blicke. Als wäre jeder ein Faulenzer, der nicht pünktlich um acht zur Arbeit fährt. Oder jeder, der selten bis gar nicht zur Arbeit fährt (Homeoffice!). Als gäbe es keine anderen Arbeitszeiten, spät oder am Wochenende, samt entsprechendem Freizeit-ausgleich. Als machte man keine Überstunden. Als gäbe es keine Urlaubs- oder Krankentage (nicht mit jeder Krankheit ist man bettlägerig) oder Elternzeit-monate. Oder Vier-tageWochen für die, die es sich leisten können und wollen, weil sie materielle Einschränkungen in Kauf nehmen für ein erfüllteres Privatleben.
Der Punkt ist fast lächerlich simpel: Es gibt keine Pflicht zu Arbeit bis zum Anschlag und maximalem Konsum in der Freizeit. Wer das beherzigt, arbeitet zukünftig womöglich wieder, um zu leben anstatt andersherum. Angekommen ist das inzwischen selbst in der langjährigen Bastion des Materialismus schlechthin, der Rapmusik. So verarbeitet der Stuttgarter Dexter seinen Schlaganfall im stressigen Doppelleben als Rapper und Kinderarzt: „Notaufnahme, dann Blutentnahme / Flügelhemd, Stroke Unit, gut verkabelt / (…) Bis mir die Ärzte endlich sagen, ich schein` Glück zu haben“. Der Darmstädter Mädness sekundiert: „Alle Vollgas, aber am Ende / Ich lass rollen grad, zieh` die Handbremse.“Und siehe da: „Auch wenn ich kurz stehen bleib` – die Dinge hier gehen ihren Weg“.
Der Punkt ist sehr simpel: Es gibt keine Pflicht zu Arbeit bis zum Anschlag.