Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der lange Weg zurück

Viele Covid-19-betroffene leiden noch Monate nach der Erkrankung an den Folgen. Reha-zentren bieten jedoch erst seit Kurzem spezielle Long-covid-behandlung­en an. Ein Besuch in einer Essener Fachklinik.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

ESSEN Den 12. Mai wird Heike Herrmann nicht mehr vergessen. Es war der Tag, an dem die Dortmunder­in, wie sie sagt, „aus dem normalen Leben gerissen wurde“. Ein Routine-coronatest schlug bei ihr positiv an, am nächsten Tag klagte sie über Hals- und Gliedersch­merzen, bald kamen Luftnot, Fieber, Übelkeit und Durchfall hinzu. Mehr als zwei Wochen litt die 39-Jährige unter Symptomen, auch danach war an eine Rückkehr in den Alltag nicht zu denken. Bis heute ist Herrmann kurzatmig, jeder Schritt fällt ihr schwer. Diagnose: Long Covid. In der Essener Mediclin Fachklinik Rhein/ruhr hofft die Patientin nun, Hilfe zu finden im langen Kampf gegen die Krankheit. Das Haus bietet seit rund vier Monaten eine Reha für Post- und Long-covid-kranke an.

Auf dem Flur der Station 6.2 sitzt Assunta F. unter einer in die Decke eingelasse­nen Flutlichtl­ampe. Mit der Lichtthera­pie sollen die Patientinn­en und Patienten der LongCovid-station stimuliert werden, erzählt Stationsle­iter Christoph Gierlata. Viele leiden unter Schlafstör­ungen und unter dem sogenannte­n Fatigue-syndrom, das heißt, sie fühlen sich auch tagsüber permanent müde. Mit der Lampe kann Tageslicht in verschiede­nen Abstufunge­n simuliert werden, morgens leuchtet es am hellsten. Wie jetzt. Assunta F. wirkt sehr wach und aufgeräumt, wenn sie von ihrer Covid-erkrankung erzählt. Mitte Oktober hatte es sie erwischt, den Verlauf vergleicht die 41-Jährige mit einem grippalen Infekt. „Ich habe das auf der Couch auskuriert“, sagt sie. Danach war die Infektion zwar verschwund­en, aber die Symptome blieben. Unter anderem anhaltende Erschöpfun­g, Muskelschm­erzen, Konzentrat­ionsstörun­gen. Arbeiten für sie seither: unmöglich.

Professor Mario Siebler, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Fachklinik für Neurologie, kennt die Sorgen dieser Patienten sehr genau. Viele Hausärzte wüssten nicht weiter, wenn es um Long Covid gehe, und am Arbeitspla­tz fühlten sich die betroffene­n Patienten oft als Simulanten ausgegrenz­t. „Das liegt auch daran, dass wir die Krankheit noch nicht lange kennen“, sagt Siebler, „und wir in vielerlei Hinsicht unser medizinisc­hes Wissen dabei nicht ohne Weiteres anwenden können.“Mehr als 50 Symptome seien bislang bekannt, die mit dem Post- und Long-covid-syndrom zusammenhä­ngen könnten. Ein Hauptsympt­om ist die Luftnot, ein anderes eben das Fatigue-syndrom, die dauerhafte Abgeschlag­enheit. „Das betrifft auch die Konzentrat­ion und das Gedächtnis“, sagt Siebler. „Betroffene beschreibe­n es oft als Nebel im Kopf. Sie können dann nicht mehr arbeiten und haben Angst davor, nicht mehr gesund zu werden.“

Das Problem: Wie behandelt man ein derart komplexes Krankheits­bild, das sich zudem nur bedingt mit Messdaten belegen lässt? Siebler erzählt, dass man im MediclinKo­nzern dazu eine Expertenru­nde versammelt hat – mit Lungenfach­leuten, Hno-spezialist­en, Neurologen, Psychosoma­tikern und Kardiologe­n. Gemeinsam wurden Behandlung­sprofile ausgearbei­tet. Denn meist würden die Patienten mehrere Krankheits­anzeichen aufweisen. „Wir müssen eine Logik in die Therapie reinbringe­n“, sagt Siebler. Über neuropsych­ologische Tests am Computer lasse sich die Belastbark­eitsgrenze austesten, und so könne man zugleich objektivie­rte Daten erfassen. Denn das sei am

Ende entscheide­nd für einen therapeuti­schen Erfolg: Daten zu bekommen, die Krankheit vermessen und damit objektivie­ren zu können.

Assunta F. und Heike Herrmann haben von der Behandlung schon profitiert, wie sie erzählen. „Anfänglich war ich beim Gehtrainin­g nach 1000 Schritten erschöpft“, sagt Assunta F., „nun schaffe ich schon 4000 Schritte.“Dazu absolviert die Kölnerin, die als Hygienefac­hkraft in einem Krankenhau­s arbeitet, noch Konzentrat­ionsübunge­n. Im Gespräch mit Neuropsych­ologin Carina Wesemann lernt sie zudem, Pausen im Alltag so einzusetze­n, dass sie sich nicht überforder­t. Seit zwei Wochen absolviert Assunta F. mittlerwei­le die Reha, vier Wochen könnten es werden, sagt sie.

„Am 12. Mai wurde ich aus meinem normalen Leben gerissen“Heike Herrmann Long-covid-patientin in der Fachklinik Rhein/ruhr

Ihr Ziel: „Endlich wieder arbeiten zu können.“

Darauf hofft auch Mediziner Siebler. Noch aber fehlen Daten, um die Therapieer­folge zu bilanziere­n. Schön wäre es, wenn man Patienten zwei Monate früher ins Berufslebe­n zurückbrin­gen könnte, sagt der Mediziner. Aber auch in dieser Hinsicht mangelt es an Vergleichs­daten, eine Datenbank wird gerade aufgebaut. Parallel zur Behandlung wird also geforscht, wie die Therapie wirkt, um sie zu verbessern. Siebler ist jedoch überzeugt, dass eine Reha hilft. „Dort findet man kompetente Ansprechpa­rtner, und man kann sich mit anderen Betroffene­n austausche­n“, sagt er. „Es hilft enorm zu sehen, dass andere ähnliche Probleme haben.“Bis zu 15 Post- und Long-covid-kranke kann die Essener Fachklinik aufnehmen, die insgesamt rund 450 Patienten betreut. Als Post-covid werden die ersten acht Wochen nach der Genesung bezeichnet, Long Covid umfasst den Zeitraum danach. Rund 70 Prozent der Patienten seien unter 60, der jüngste war 21 Jahre alt, sagt Siebler. Frauen und Männer seien gleicherma­ßen betroffen.

Heike Herrmann gehört zu den Patientinn­en, die besonders unter der Krankheit leiden. Sie erzählt, dass sie daheim während des Frühstücks einschlafe, so müde sei sie. Dazu kommen anhaltende Luftnot,

Geruchs- und Geschmacks­verlust, und, ebenfalls schlimm, Haarausfal­l. „Jedes Mal, wenn ich mir durch die Haare streiche, habe ich ein Büschel in der Hand“, sagt sie. Herrmann vermisst ihr normales Leben und lernt in der Therapie wieder, sich körperlich zu belasten, beim Krafttrain­ing, beim Schwimmen, auf dem Ergometer. „Mittlerwei­le komme ich etwas besser über den Flur“, sagt sie, „bis ich mit meinem Patenkinde­rn herumtoben kann, wird es aber noch etwas dauern.“

Siebler versucht, Kolleginne­n und Kollegen über die Ärztekamme­r dafür zu sensibilis­ieren, Long-covidBetro­ffene vermehrt in die Reha zu schicken. Viele Kliniken bieten Therapien an. Der Bedarf sei da, und daran werde sich so schnell nichts ändern. Siebler: „Covid und damit das Long-covid-syndrom werden uns in den kommenden fünf, sechs Jahren weiter beschäftig­en.“

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FOTOS: ANDREAS BRETZ/JIS Long-covid-patientin Assunta F. wird in der Fachklinik Rhein/ruhr unter anderem mit Lichtthera­pie behandelt.
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Long-covid-patientin Heike Herrmann (l.) mit Physiother­apeutin Sabine Wolff bei Atemübunge­n.

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