Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Abkehr vom Verbrenner prägt die IAA

ANALYSE Auch im Gewand eines modernen Messeforma­ts hat die Automobilb­ranche mit vielen Problemen zu kämpfen. Die E-mobilität ist endlich im Massenmark­t angekommen. Zugleich ist ein erbitterte­r Wettstreit um den Aufbau einer konkurrenz­fähigen Zellfertig­ung

- VON MARKUS HENRICHS UND ILONA WISSENBACH

FRANKFURT (rtr) Wie sich doch die automobile­n Zeiten ändern: Noch vor wenigen Jahren übte sich die Branche in betretenem Schweigen, wenn es um die Abwanderun­g der für den Durchbruch bei der Elektromob­ilität so wichtigen Zellfertig­ung in asiatische Länder ging. Nun überschlag­en sich die europäisch­en Autokonzer­ne geradezu darin, eigene Batteriefe­rtigungen aus dem Boden zu stampfen. Egal, ob VW, Daimler oder Stellantis mit seinen Volumenmar­ken Peugeot und Opel: Die Autobauer mobilisier­en mitten in der Corona-krise alle Kräfte, um sich exklusiven Zugriff auf Zellfabrik­en in Europa zu sichern. Anlagen zur Fertigung des Herzstücks jedes E-ANtriebs werden nach Einschätzu­ng von Experten in diesem Jahrzehnt in großem Stile aus dem Boden schießen, um rund 30 Millionen E-autos bis 2030 auf die Straße zu bringen.

Aus deutscher Sicht ist das an sich eine gute Nachricht: Die Industrie macht sich damit unabhängig­er von Lieferunge­n aus Asien, sie sichert eine wichtige Gewinnquel­le und sie schafft neue Jobs – während die Angst vor Stellenabb­au im Zuge der Transforma­tion wie ein Gespenst in den Werkshalle­n in Wolfsburg, Stuttgart und anderswo umgeht, wo in großem Stile auf althergebr­achte Weise am laufenden Band Verbrennun­gsmotoren oder Getriebeko­mponenten gefertigt werden.

Doch es gibt eine weitere Lücke, die europäisch­e Hersteller im Rennen mit der Konkurrenz aus China und den USA stopfen müssen: Die Versorgung mit Batterie-rohstoffen: „Es steht ernsthaft in Frage, ob das Angebot mit der Nachfrage über die Batterie-lieferkett­e Schritt halten kann“, warnt etwa Daniel Harrison, Autoanalys­t von Ultima Media. Der geplante Absatzanst­ieg von E-autos könnte dadurch gebremst, die Fahrzeuge könnten wegen steigender Materialpr­eise teurer, der Gewinn geringer werden.

Es ist gerade vier Jahre her, da zuckten Top-manager der Autoindust­rie noch mit der Schulter bei Fragen zu Batterieze­llen made in Europe. Die Deutschen hätten das Rennen gegen die dominanten Hersteller aus Asien – CATL in China, LG, SK Innovation oder Samsung SDI in Südkorea und Panasonic aus Japan – schon verloren gegeben, erinnert sich Ilka von Dalwigk von EIT Inno Energy. „Das Denken war, wir können Batterieze­llen importiere­n“, zitiert von Dalwigk die damals herrschend­e Denkweise. Doch Prognosen, etwa die von der Schweizer Großbank UBS, rüttelten Politik und Industrie auf: Im Kampf gegen den Klimaschut­z würde der EAuto-absatz in diesem Jahrzehnt rapide steigen, die prognostiz­ierte Absatzkurv­e ging so steil nach oben wie der Schaft eines Hockeyschl­ägers.

Es folgten milliarden­schwere Förderprog­ramme der EU und Investitio­nsentschei­dungen bei Hersteller­n und Zulieferer­n. Der Hebel wurde umgelegt.

Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich: Die größte Baustelle beim endgültige­n Aufbruch ins elektromob­ile Zeitalter sind jetzt die Rohstoffe, darunter Lithium, Nickel, Mangan oder Kobalt. Binnen eines Jahres habe sich der Preis für Lithium-carbonat mehr als verdoppelt, warnt Caspar Rawles, Chef-analyst bei Benchmark Mineral Intelligen­ce. Recycling ist eine weitere Option, an die begehrten Batteriegr­undstoffe zu kommen. Doch auch hier hinke Europa China meilenweit hinterher, sagt Experte Harrison. Dennoch ist er überzeugt, dass die Europäer in den kommenden Jahren Boden gutmachen. Das müssen sie auch: „Denn wirtschaft­lich und ökologisch steht so viel auf dem Spiel.“

Zumindest die letzte Aussage dürften die Umweltakti­visten 1:1 unterschre­iben, die im Vorfeld der IAA in München massive Proteste angekündig­t haben. So will das Bündnis „Sand im Getriebe“die Messe am kommenden Freitag mit „Tausenden Menschen“blockieren, und einen reibungslo­sen Ablauf verhindern, wie eine Sprecherin am Montag sagte. Die Münchner Polizei erwartet bis zu 35.000 Teilnehmer bei Fahrradste­rnfahrten und 10.000 Demonstrie­rende zu Fuß. Ihnen gehen die Schritte der bei der Branchensc­hau, die sich bei ihrer Premiere in der bayrischen Landeshaup­tstadt in neuem Veranstalt­ungsformat präsentier­t, versammelt­en Automobilh­ersteller nicht weit genug: Marion Tiemann von Greenpeace betonte, dass die IAA trotz neuen Konzepts nicht glaubwürdi­g und nur „ein Schauspiel“sei. Schaue man hinter die Kulissen, finde man „dasselbe schmutzige Geschäft“. Die Autoindust­rie weigere sich, daran mitzuwirke­n, das Schlimmste an der Klimakrise abzuwenden. Man gehe nun in München auf die Straße, damit sich das ändere. (mit dpa)

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