Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Abkehr vom Verbrenner prägt die IAA
ANALYSE Auch im Gewand eines modernen Messeformats hat die Automobilbranche mit vielen Problemen zu kämpfen. Die E-mobilität ist endlich im Massenmarkt angekommen. Zugleich ist ein erbitterter Wettstreit um den Aufbau einer konkurrenzfähigen Zellfertigung
FRANKFURT (rtr) Wie sich doch die automobilen Zeiten ändern: Noch vor wenigen Jahren übte sich die Branche in betretenem Schweigen, wenn es um die Abwanderung der für den Durchbruch bei der Elektromobilität so wichtigen Zellfertigung in asiatische Länder ging. Nun überschlagen sich die europäischen Autokonzerne geradezu darin, eigene Batteriefertigungen aus dem Boden zu stampfen. Egal, ob VW, Daimler oder Stellantis mit seinen Volumenmarken Peugeot und Opel: Die Autobauer mobilisieren mitten in der Corona-krise alle Kräfte, um sich exklusiven Zugriff auf Zellfabriken in Europa zu sichern. Anlagen zur Fertigung des Herzstücks jedes E-ANtriebs werden nach Einschätzung von Experten in diesem Jahrzehnt in großem Stile aus dem Boden schießen, um rund 30 Millionen E-autos bis 2030 auf die Straße zu bringen.
Aus deutscher Sicht ist das an sich eine gute Nachricht: Die Industrie macht sich damit unabhängiger von Lieferungen aus Asien, sie sichert eine wichtige Gewinnquelle und sie schafft neue Jobs – während die Angst vor Stellenabbau im Zuge der Transformation wie ein Gespenst in den Werkshallen in Wolfsburg, Stuttgart und anderswo umgeht, wo in großem Stile auf althergebrachte Weise am laufenden Band Verbrennungsmotoren oder Getriebekomponenten gefertigt werden.
Doch es gibt eine weitere Lücke, die europäische Hersteller im Rennen mit der Konkurrenz aus China und den USA stopfen müssen: Die Versorgung mit Batterie-rohstoffen: „Es steht ernsthaft in Frage, ob das Angebot mit der Nachfrage über die Batterie-lieferkette Schritt halten kann“, warnt etwa Daniel Harrison, Autoanalyst von Ultima Media. Der geplante Absatzanstieg von E-autos könnte dadurch gebremst, die Fahrzeuge könnten wegen steigender Materialpreise teurer, der Gewinn geringer werden.
Es ist gerade vier Jahre her, da zuckten Top-manager der Autoindustrie noch mit der Schulter bei Fragen zu Batteriezellen made in Europe. Die Deutschen hätten das Rennen gegen die dominanten Hersteller aus Asien – CATL in China, LG, SK Innovation oder Samsung SDI in Südkorea und Panasonic aus Japan – schon verloren gegeben, erinnert sich Ilka von Dalwigk von EIT Inno Energy. „Das Denken war, wir können Batteriezellen importieren“, zitiert von Dalwigk die damals herrschende Denkweise. Doch Prognosen, etwa die von der Schweizer Großbank UBS, rüttelten Politik und Industrie auf: Im Kampf gegen den Klimaschutz würde der EAuto-absatz in diesem Jahrzehnt rapide steigen, die prognostizierte Absatzkurve ging so steil nach oben wie der Schaft eines Hockeyschlägers.
Es folgten milliardenschwere Förderprogramme der EU und Investitionsentscheidungen bei Herstellern und Zulieferern. Der Hebel wurde umgelegt.
Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich: Die größte Baustelle beim endgültigen Aufbruch ins elektromobile Zeitalter sind jetzt die Rohstoffe, darunter Lithium, Nickel, Mangan oder Kobalt. Binnen eines Jahres habe sich der Preis für Lithium-carbonat mehr als verdoppelt, warnt Caspar Rawles, Chef-analyst bei Benchmark Mineral Intelligence. Recycling ist eine weitere Option, an die begehrten Batteriegrundstoffe zu kommen. Doch auch hier hinke Europa China meilenweit hinterher, sagt Experte Harrison. Dennoch ist er überzeugt, dass die Europäer in den kommenden Jahren Boden gutmachen. Das müssen sie auch: „Denn wirtschaftlich und ökologisch steht so viel auf dem Spiel.“
Zumindest die letzte Aussage dürften die Umweltaktivisten 1:1 unterschreiben, die im Vorfeld der IAA in München massive Proteste angekündigt haben. So will das Bündnis „Sand im Getriebe“die Messe am kommenden Freitag mit „Tausenden Menschen“blockieren, und einen reibungslosen Ablauf verhindern, wie eine Sprecherin am Montag sagte. Die Münchner Polizei erwartet bis zu 35.000 Teilnehmer bei Fahrradsternfahrten und 10.000 Demonstrierende zu Fuß. Ihnen gehen die Schritte der bei der Branchenschau, die sich bei ihrer Premiere in der bayrischen Landeshauptstadt in neuem Veranstaltungsformat präsentiert, versammelten Automobilhersteller nicht weit genug: Marion Tiemann von Greenpeace betonte, dass die IAA trotz neuen Konzepts nicht glaubwürdig und nur „ein Schauspiel“sei. Schaue man hinter die Kulissen, finde man „dasselbe schmutzige Geschäft“. Die Autoindustrie weigere sich, daran mitzuwirken, das Schlimmste an der Klimakrise abzuwenden. Man gehe nun in München auf die Straße, damit sich das ändere. (mit dpa)