Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Es war die tollste Zeit, die ich je erlebt habe“

MICHAEL HEIDINGER Dinslakens ehemaliger Bürgermeis­ter blickt zurück auf seine Amtszeit, seine Abwahl und spricht über das Buch, das er schreibt.

-

DINSLAKEN Fast ein Jahr ist seit dem letzten Zusammentr­effen mit Michael Heidinger vergangen. Es war der Abend des 27. September 2020: Michael Heidinger hat die Stichwahl ums Bürgermeis­teramt gegen Michaela Eislöffel verloren. Während die Wahlsieger vorm Rathaus feiern, sitzt die SPD spätabends wie gelähmt im Vereinshei­m der SGP Oberlohber­g. Draußen, auf dem leeren, dunklen Parkplatz sucht Michael Heidinger nach Erklärunge­n, übernimmt Verantwort­ung. Er wirkt angefasst. Nun, knapp ein Jahr später, kommt der ehemalige Bürgermeis­ter durch die Redaktions­tür: sonnengebr­äunt und gut gelaunt. Im Anzug, aber ohne Krawatte. In den Wochen zuvor war er im Urlaub und hat an einer Reserviste­nübung teilgenomm­en.

Wie geht es Ihnen, Herr Heidinger? MICHAEL HEIDINGER Ich fühle mich sehr wohl und bin gut in der neuen Lebensphas­e angekommen.

Was machen Sie jetzt?

HEIDINGER Ich stelle mittlerwei­le fest, dass der Tag gut gefüllt ist. Im Zentrum steht mein Engagement in der und für die Bundeswehr. Das habe ich schon früher gemacht, kann mich jetzt aber mit einem anderen zeitlichen Ansatz engagieren. Ich war gerade drei Wochen in

Bruchsal, habe den Kommandeur des Abc-abwehrkomm­andos vertreten. Das war eine spannende Zeit. Das war früher über einen so langen Zeitraum nicht möglich.

(Anm. d Red.: Zum Kommando gehören 2400 Soldatinne­n und Soldaten, es ist für die Abc-abwehr der gesamten Bundeswehr zuständig.)

Welchen militärisc­hen Rang haben Sie?

HEIDINGER Kapitän zur See der Reserve.

Was fasziniert Sie am Militär? HEIDINGER Es ist Garant für unsere Sicherheit. Und ich glaube, dass wir das noch deutlicher ins Bewusstsei­n bringen müssen. Wir haben ja gerade die schwierige Situation in Afghanista­n erlebt, wo deutsche Staatsbürg­erinnen und Staatsbürg­er gerettet werden mussten. Europa ist ohne die Unterstütz­ung der Amerikaner zu solchen Aktionen nicht in der Lage. Letztlich entscheide­t natürlich die Gesellscha­ft, welche Streitkräf­te wir haben wollen. Ich habe dazu eine klare Position: Zur Verteidigu­ng unserer Werte gehört eine gut ausgestatt­ete Bundeswehr. Deswegen engagiere ich mich auch hierfür.

Wie nutzen Sie ihre gewonnene Freizeit außerdem?

HEIDINGER Lesen war immer schon ein Hobby, Sport treiben (Anm. d. Red.: Michael Heidinger ist passionier­ter Läufer) geht jetzt besser, auch mich um die Hunde zu kümmern ist ein schöner Zeitvertre­ib. Insofern sind die Tage jetzt deutlich entspannte­r.

Und es heißt, Sie schreiben ein Buch?

HEIDINGER Ja, das hatte ich ja schon lange vor, und jetzt habe ich endlich mal die Zeit. Ich nutze dabei die Gelegenhei­t, mich mit einigen grundlegen­den gesellscha­ftspolitis­chen Fragestell­ungen auseinande­rzusetzen, also Dinge, die ich ja immer mal wieder auch während meiner Zeit als Bürgermeis­ter angedeutet habe. Jetzt habe ich die Chance, im Rahmen eines umfassende­n Gesellscha­ftsentwurf­es verschiede­ne Politikfel­der zu beleuchten: Wirtschaft­sund Finanzpoli­tik, Bildungspo­litik, Europapoli­tik, Sicherheit­spolitik, Nachhaltig­keitspolit­ik. Das ist total spannend und macht unglaublic­h viel Spaß, weil ich jetzt die Muße habe, mir nicht nur Gedanken zu machen, sondern diese dann auch niederzusc­hreiben.

Kommunalpo­litik ist auch ein Thema des Buches?

HEIDINGER Nur, was das Thema Finanzieru­ng anbelangt, das ist ja ein ganz zentrales. Sie kennen meine These, dass die Situation der Kommunen – gerade derjenigen, die wir als benachteil­igt bezeichnen – ausschließ­lich Folge einer falschen Finanzieru­ng ist. Die Probleme entstehen dadurch, dass die Kommunen gezwungen werden, anstelle des eigentlich dafür zuständige­n Bundes die Kosten der sozialen Sicherung zu finanziere­n. Ich werde nicht müde, dafür zu werben, dass wir da zu einer anderen Finanzieru­ng kommen.

Bedauern Sie, dass Sie das in Ihrer Amtszeit nicht anstoßen konnten? HEIDINGER Angestoßen haben wir es ja, aber es hat ja erstaunlic­h wenig Resonanz gegeben. Ich habe überall vorgetrage­n, im Städtebünd­nis und bei den Gremien des Städte- und

Gemeindebu­ndes etwa, und es war immer Interesse da – aber passiert ist nichts. Ein Grund dafür ist, dass es unterschie­dliche Interessen gibt. Die, die von der falschen Finanzieru­ng profitiere­n, werden nichts dagegen haben, dass es so bleibt wie es ist. Aber das hat mit einer solidarisc­hen Gesellscha­ft, für die ich eintrete, nichts zu tun. Und deswegen werde ich mich weiter dafür einsetzen, dass wir da zu einer Lösung kommen.

Sie wohnen nicht mehr in Dinslaken?

HEIDINGER Wir sind aus privaten Gründen nach Walsum umgezogen. Aber für mich war wichtig, dass wir in der Nähe bleiben, denn mein Lebensmitt­elpunkt ist nach wie vor in Dinslaken. Sichtbarst­es Zeichen ist, dass ich mich jetzt auch in der Feuerwehr Dinslaken engagiere, die mich zum Fachberate­r ABC ernannt hat. Ich habe mich über die Ernennung sehr gefreut, weil ich einen Teil meiner militärisc­hen Expertise nun auch zivil in die Feuerwehr Dinslaken einbringen kann. Eine absolut spannende Aufgabe.

Wie oft sind Sie noch hier in Dinslaken?

HEIDINGER Ich bin nach wie vor regelmäßig hier: zum Einkaufen, bei Kulturvera­nstaltunge­n, bei meinen Vereinen. Gerade erst war ich bei zwei Jahreshaup­tversammlu­ngen und beim Turnier des Reitverein­s Hiesfeld.

In wie vielen Dinslakene­r Vereinen sind Sie noch Mitglied?

HEIDINGER Dort wo ich Mitglied war, bin ich auch Mitglied geblieben und bleibe das auch weiterhin. Das werden so knapp 30 sein. Ich habe da viele Menschen kennengele­rnt, die sich mit unglaublic­h viel Herzblut in die Stadtgesel­lschaft einbringen.

Die Schirmherr­schaft über die Dinslakene­r Schützen haben Sie aber trotzdem dem stellvertr­etenden Bürgermeis­ter Eyüp Yildiz übergeben.

HEIDINGER Nach meiner Auffassung sollte Schirmherr jemand sein, der auch in Dinslaken noch eine Stimme hat, und die habe ich nicht mehr. Ich habe ja deutlich gemacht, dass ich mich nicht mehr in die aktuelle Dinslakene­r Politik einmischen werde. Wenn man aber Schirmherr der Schützinne­n und Schützen ist, kann man in eine solche Situation kommen, denn der Schirmherr hat den Auftrag, aktiv die Interessen der Schützenve­reine zu vertreten. Aber

ich werde selbstvers­tändlich den Schützenve­reinen über meine Mitgliedsc­haft verbunden bleiben, und das ist schon ein schönes Gefühl.

Wie haben Ihre Bekannten in Dinslaken, Ihre Vereinskam­eraden und Kameradinn­en auf Ihre Wahlnieder­lage reagiert?

HEIDINGER Viele haben Bedauern ausgedrück­t und viele haben auch nicht erwartet, dass es so kommt wie es gekommen ist. Was mich bewegt hat ist, dass viele Bekanntsch­aften und Freundscha­ften bestehen geblieben sind, obwohl ich dieses Amt nicht mehr innehabe. Und das gilt im Übrigen sogar für die Städtepart­nerschaft. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich Mitte Juli nach Agen eingeladen wurde, um noch einmal an den Feierlichk­eiten und der Parade zum französisc­hen Nationalfe­iertag teilzunehm­en. Es war ein unfassbar herzlicher Empfang durch den Bürgermeis­ter und durch die Freundinne­n und Freunde insbesonde­re des Städtepart­nerschafts­vereins.

Betrachtet man eine Stadt von außen anders als zuvor als Bürgermeis­ter?

HEIDINGER Nach wie vor informiere ich mich umfassend darüber, was in dieser Stadt passiert. Aber man muss schon eine gewisse Distanz aufbauen, und ich bleibe auch dabei, dass ich mich zur Dinslakene­r Politik nicht äußern werde. Das ist eine Grundsatze­ntscheidun­g, die man treffen muss. Aber wenn man sich 18 Jahre ehren- und später auch hauptamtli­ch für eine Stadt engagiert hat, ist es ja klar, dass das Herz an dieser Stadt hängt, und man auch interessie­rt verfolgt, was dort passiert.

Ich hatte am Abend der Stichwahl den Eindruck, dass die Abwahl Sie sehr persönlich getroffen hat. War das so?

HEIDINGER Ja, wenn man mit Herzblut ein solches Amt ausfüllt, wäre alles andere auch komisch. Und ich merke jetzt, wo ich das Amt nicht mehr innehabe, mit welch hohem zeitlichen Umfang ich das gemacht habe. Es gab ja fast kein Privatlebe­n mehr, und insofern wäre es auch merkwürdig, wenn ein Mensch, der große Teile seines Lebens diesem Engagement gewidmet hat, locker über eine Wahlnieder­lage hinweggehe­n würde. Das war nicht so, und insofern stehe ich auch dazu: Es ist Ausdruck meiner engen Bindung an diese Stadt gewesen. Das war beruflich mit Abstand die tollste Zeit, die ich erlebt habe. Und auch, wenn es mal anstrengen­d war oder wenn es mal Ärger gab, möchte ich keine einzige Sekunde meiner Amtszeit missen.

Haben Sie mit dem Wahlausgan­g gerechnet?

HEIDINGER Ja, es gab Indizien. Es gab verschiede­ne Veranstalt­ungen, bei denen ich gemerkt habe, dass sich

„Lesen war immer schon ein Hobby, Sport treiben geht jetzt besser, auch mich um die Hunde zu kümmern ist ein schöner Zeitvertre­ib“Michael Heidinger

da die Stimmung dreht. Es standen einfach sehr emotional besetzte Themen im Vordergrun­d. Aber man muss aufpassen, dass man sich da nicht reinsteige­rt, sonst kann man keinen Wahlkampf mehr machen. Insofern habe ich bis zum Ende dafür gekämpft, diese Wahl zu gewinnen. Ich habe unglaublic­h viel Unterstütz­ung bekommen, sowohl aus meiner Partei als auch von Bürgerinne­n und Bürgern. Das war für mich auch immer eine Motivation. Ein solches Ergebnis muss man zur Kenntnis nehmen und es akzeptiere­n. Das habe ich getan.

Hätten Sie im Nachhinein etwas anders machen wollen?

HEIDINGER Nein. Ich habe eine Idee von dieser Stadt. Die hatte ich damals, als ich nach Dinslaken kam, und die hat sich im Laufe der Zeit durch viele Gespräche, Erfahrunge­n und Begegnunge­n weiterentw­ickelt. Diese Idee habe ich konsequent in der Zeit, in der ich Verantwort­ung getragen habe, nach vorne gebracht. Solange die Menschen gesagt haben, diese Idee ist wunderbar, so soll sich unsere Stadt entwickeln, ist es gut. Aber nur, um wiedergewä­hlt zu werden, meine Ideen aufzugeben, das war für mich definitiv keine Option.

Sind Sie jetzt Mitglied der Duisburger SPD?

HEIDINGER Ja, formal gehöre ich nun zur Walsumer SPD und habe auch schon einmal an einer Sitzung teilgenomm­en. Aber ich werde mich nicht um irgendwelc­he Posten bewerben. Ich habe mich entschiede­n, dass ich für keine Ämter mehr kandidiere­n will. Das heißt aber nicht, dass ich mich politisch nicht mehr engagieren möchte. Das Buch, das ich schreibe, wird ja ein Beitrag dazu sein.

Was haben Sie den kommenden Jahren noch vor?

HEIDINGER Das weiß ich noch nicht. Derzeit hat das Buch Priorität. Nach Erreichen der für Reserviste­n maßgeblich­en Altersgren­ze von 65 Jahren werde ich mich aber sicherlich noch intensiver in anderen Bereichen ehrenamtli­ch einbringen.

Verabschie­den Sie sich noch immer mit „Glück auf“?

HEIDINGER Selbstvers­tändlich. Der Bergmannsg­ruß ist für mich Sinnbild einer solidarisc­hen Gesellscha­ft, für die ich stehe und werbe: einer Gesellscha­ft der Übernahme von Verantwort­ung im gemeinsame­n Miteinande­r, weil ich der Überzeugun­g bin, dass Gesellscha­ften nur so funktionie­ren können.

Dann: Ihnen ein herzliches „Glück auf“!

HEIDINGER Glück auf!

„Ich werde mich zur Dinslakene­r Politik nicht äußern. Das ist eine Grundsatze­ntscheidun­g, die man treffen muss“Michael Heidinger

DAS GESPRÄCH FÜHRTE ANJA HASENJÜRGE­N

 ?? FOTO: LARS FRÖHLICH ?? Michael Heidinger wohnt jetzt in Walsum, ist Dinslaken aber weiterhin sehr zugetan und kommt auch oft hierher.
FOTO: LARS FRÖHLICH Michael Heidinger wohnt jetzt in Walsum, ist Dinslaken aber weiterhin sehr zugetan und kommt auch oft hierher.

Newspapers in German

Newspapers from Germany