Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Schumanns Friedhöfe
Trauer, Schmerz und Tod: Der Bariton Christian Gerhaher hat sämtliche Lieder von Robert Schumann in einer eindrucksvollen Box mit elf CDS vorgelegt.
Als es Robert Schumann im Frühjahr 1840 sehr schlecht ging, konsultierte er keinen Arzt, sondern einen Dichter. In Heinrich Heines „Buch der Lieder“fand er die Symptome, die er an sich selbst spürte: Tränen, wilde Schmerzen, panische Träume, übergroßes Weh. Unter Schumanns Füßen schwankte der Boden, die Hochzeit mit Clara stand in den Sternen, Vater Wieck versuchte die Ehe mit allen Mitteln zu verhindern. Schumann floh in eine Parallelwelt, in der ihm wenigstens die Tonkunst Sicherheit gab. In acht Tagen komponierte er die „Dichterliebe“– 16 Lieder als Psychogramm einer tönenden Verzweiflung.
Alles ist zerbrechlich und vergänglich hier, doch hat die Ausweglosigkeit etwas Launiges, finster Fröhliches. Fast hat jemand, so scheint es, sehr viel Erfahrung mit seinem Kummer. Für solche Situationen hat Dr. med. Christian Gerhaher größtes Verständnis. Der Arzt ist im Hauptberuf approbierter Bariton. Er kann aus Tränen eine Nährlösung machen, in der die Stimme weich zerfließt, sie kann sich an trügerischen Hoffnungen wie an Krücken festhalten, sie kann sich das Unglück der Welt aus dem Leib singen, sie kann zur Tränenflut anschwellen, aber sie kann auch erbleichen, sodass Heines trauriger, blasser Mann in voller Kümmernis dasteht.
Die „Dichterliebe“ist fraglos ein Höhepunkt in einer neuen Edition von Sony Music, denen jeder Rheinländer seine patriotische Zuwendung gewähren muss. Sie bietet auf elf CDS nicht nur sämtliche Lieder des großen Komponisten, sie gibt auch einen Einblick in das Liedschaffen der Düsseldorfer Zeit. Damals hat Schumann eben nicht nur späte Sinfonien, Klavierstücke oder Chorwerke geschrieben, sondern auch bedeutende Lieder, etwa den rätselhaft verspiegelten MariaStuart-zyklus. Ganz und gar faszinierend sind die vier Husarenlieder op. 117 auf Gedichte von Lenau.
Es gibt Sänger, die sich dermaßen in ihre eigene Stimme verlieben, dass sie die Intimität des Liedes verlassen. Dann entstehen manchmal Worte ohne Lieder. Gerhaher passiert das fast nie. Seine herrliche, auf gesundem Kern basierende, lyrisch ummantelte Stimme ist dem Komponisten zu Diensten, nicht der Selbstdarstellung. Mit lautester Empfindung steht er an der Seite des Dichters, des Komponisten und des einsamen Sängers. Nur selten verliert sich Gerhaher an eine übertriebene punktuelle Dynamik à la Fischer-dieskau, die aus dem Zusammenhang fällt, etwa im „Röselein“aus op. 89. Da singt das Bächlein die Zeile: „Lass du nur dein Träumen sein!“Bei Schumann bleibt die Lautstärke gleichmäßig, die Steigerung folgt erst in der nächsten Textzeile, wo es heißt: „Merk dir's fein, Dornröslein müssen sein.“Gerhaher aber gewichtet das „nur dein Träumen“so aufdringlich zum emphatischen Moment, dass man beinahe erschrickt. So hat Schumann das sicher nicht gemeint. Gottlob sind solche Entgleisungen bei Gerhaher die Ausnahme.
Solche Kunst kann jedenfalls nur in maximaler Eintracht zwischen Sänger und Begleiter gelingen. Nun, Gerhaher und der Pianist Gerold Huber wurden beide 1969 in Straubing geboren, beide sind sozusagen ein Sandkastengespann. Sie kennen und vertrauen einander blind. Für die Frauenlieder, die Duette und Terzette hat sich Gerhaher exzellenter Kolleginnen versichert, etwa Julia Kleiter, Sibylla Rubens, Camilla Tilling, Wiebke Lehmkuhl und Christina Landsamer. Sie bringen ein Füllhorn neuer Farben und Timbres mit. Huber macht aus dem Begleiter keinen Jasager, sondern Schumanns zweiten Gefährten. Er spielt leicht, luftig, federnd, er klebt nicht an seinem Part, sondern geht auch den Nebenstimmen eigenständig nach. Und plötzlich hat alles Zerbrechliche, Vergängliche für Momente schärfste Gestalt: die für Schumann charakteristischen Synkopen und verschobenen Rhythmen; das unablässige Kreiseln des Windes, mit dem das Lied der Liebsten durch die Blumen fährt; der mit Befremden beobachtete Hochzeitsreigen, der sich zum Dröhnen auswächst. Hier die atemlose Scheu im Moment keimender Zuversicht, dort die starre Schwerkraft des Sargs, in dem ein Liebeskranker im letzten Lied seine Liebe und seinen Schmerz versenkt.
Robert Schumann hat diese schwarzen Zonen der Lyrik sein ganzes Leben über regelmäßig aufgesucht – und wer sich kummerbereit überzeugen will, dass auch auf elf CDS die Traurigkeit tatsächlich nimmer endet, der sollte die Edition erwerben. Natürlich hört man auch einige flache Lieder, Momente ohne sonderliche kompositorische Inspiration. Andererseits gibt es neben der „Dichterliebe“auch die Kerner-lieder op. 35 und der einzigartige Eichendorff-liederkreis op. 39, weitere Höhepunkte, die man zwingend von Gerhaher und Huber gehört haben sollte.
Ja, es ist auch die Welt der Friedhöfe, welche die beiden Künstler durchmessen. Immer ist der Tod der Gefährte dieser Erkundungen. Die Romantiker hatten nah am Wasser und noch näher am Grab gebaut.