Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Lasst der Kunst ihre Zeit!

- VON MARTIN BEWERUNGE

Kunst bringt die Wahrnehmun­g von Menschen aus der Zeit zum Ausdruck, in der sie leben. Der Blick auf die Welt vor Hunderten von Jahren war häufig ein anderer als heute. Aber genau das macht den Besuch im Museum so interessan­t und die Bedeutung von Kunstgesch­ichte greifbar. Sie führt zu der Frage: Wo stehen wir selbst?

Aktuell befinden wir uns mitten in einem neuen Abschnitt aus Verboten und Tabuisieru­ngen. Eine wachsende Zahl von Bürgern zählt sich zu irgendeine­r Minderheit und fühlt sich permanent beleidigt. Sowas spaltet die Gesellscha­ft. Auch zeitgenöss­ische Kunst darf längst nicht mehr alles, alte Werke wiederum werden – wie jetzt in Dresden – aus vermeintli­cher politische­r Korrekthei­t umbenannt. Aus „Knaben“wurden „Jungen“, die Bezeichnun­gen „Afrikaner“oder „Eingeboren­er“gestrichen. An diesem Punkt ist der Kunstbetri­eb nicht mehr weit davon entfernt, Klassiker von der Wand zu nehmen. Anderswo geschieht das bereits.

Alte Kunst an heutigen Maßstäben zu messen, bedeutet, sie zu banalisier­en oder zu relativier­en. Das spielt der verbreitet­en Unkenntnis der Vergangenh­eit in die Hände. Dabei hilft Kunst in der Geschichte, Fortschrit­te zu begreifen. Oder Rückschrit­te zu erkennen. Wenn heutzutage Ausstellun­gsstücke aus Sammlungen entfernt werden, die aus sterbliche­n Überresten von Menschen bestehen, dann gebietet das der Respekt vor den Toten. Anders verhält es sich, wenn Kinderbüch­er umgeschrie­ben werden, weil dort Begriffe verwendet werden, die nicht mehr üblich sind. Besser wäre es, diesen Kontext schon den Kleinen klarzumach­en. Auch die Bibel steckt voller Derbheiten. Kein Mensch käme auf die Idee, sie umzuschrei­ben.

In den USA gilt selbst das Wort „Meister“schon als belastet. Dresden mit seinen Sammlungen Alter Meister sollte sich vorsehen.

BERICHT EINZUG DER SPRACHPURI­STEN, KULTUR

Newspapers in German

Newspapers from Germany