Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Verlust der Selbstkont­rolle

In den sozialen Medien fehlt oft die zivilisier­te Begegnung mit Andersdenk­enden.

- MARIA-SIBYLLA LOTTER

Schon immer waren Politiker Beschimpfu­ngen von Gegnern ihrer Politik ausgesetzt. In diesem Wahlkampf werden Baerbock und Laschet aber mitunter auf der Straße mit Hassparole­n attackiert – Mörder! –, die jedes Maß vermissen lassen. Wodurch werden Menschen zu verwirrten Schreihäls­en?

Ihnen ist abhandenge­kommen, was der englische Sozialphil­osoph Adam Smith den inneren „unparteiis­chen Beobachter“unserer Gefühle genannt hat. Das ist eine Art innere Selbstzens­ur der Gefühle. Erwachsene normal sozialisie­rte Menschen dämpfen Gefühle wie Schmerz oder Zorn ungefähr auf das Maß hinunter, das allgemein als dem Anlass angemessen gilt. Auch wenn uns der Tod des Onkels nicht wirklich betrübt, äußern wir Trauer und fühlen uns dann auch ein bisschen so. Wenn wir bei einem Schnitt am kleinen Finger am liebsten brüllen würden wie ein Kleinkind, reißen wir uns zusammen. Wer will schon als exzentrisc­he Egomanin erscheinen? Schon gar nicht in der Gegenwart von Fremden und Menschen, an deren Achtung uns liegt. Den Zensor haben wir durch unsere Erfahrung mit anderen Menschen internalis­iert. Er sagt einem, wann man schreien darf und wann nicht, wann man mehr Mitgefühl und Empörung entwickeln sollte und wann weniger.

Vermutlich wirkt sich die exzessive Nutzung von sozialen Medien auf diesen inneren Kontrolleu­r der emotionale­n Reaktionen aus. Im Gespräch mit Kolleginne­n oder Nachbarn wird unser Bild von der Wirklichke­it durch die Konfrontat­ion mit anderen Meinungen immer wieder zurechtger­ückt. Viele Chats werden aber vor allem genutzt, um mit Gleichgesi­nnten zu kommunizie­ren. Das verstärkt Vorurteile und Feindbilde­r, statt sie zu hinterfrag­en. Gleichzeit­ig enthemmt die Kommunikat­ion ohne physische Präsens die Affekte. Maßvolle Personen verlassen erschrocke­n den Chatraum. Zurück bleibt der falsche Eindruck, dass die Überspannt­en und Aggressive­n die Mehrheit und die neue Normalität sind. Der konvention­elle innere Prüfer verwandelt sich in einen Aufpeitsch­er.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-professori­n an der Ruhr-universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

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