Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Verlust der Selbstkontrolle
In den sozialen Medien fehlt oft die zivilisierte Begegnung mit Andersdenkenden.
Schon immer waren Politiker Beschimpfungen von Gegnern ihrer Politik ausgesetzt. In diesem Wahlkampf werden Baerbock und Laschet aber mitunter auf der Straße mit Hassparolen attackiert – Mörder! –, die jedes Maß vermissen lassen. Wodurch werden Menschen zu verwirrten Schreihälsen?
Ihnen ist abhandengekommen, was der englische Sozialphilosoph Adam Smith den inneren „unparteiischen Beobachter“unserer Gefühle genannt hat. Das ist eine Art innere Selbstzensur der Gefühle. Erwachsene normal sozialisierte Menschen dämpfen Gefühle wie Schmerz oder Zorn ungefähr auf das Maß hinunter, das allgemein als dem Anlass angemessen gilt. Auch wenn uns der Tod des Onkels nicht wirklich betrübt, äußern wir Trauer und fühlen uns dann auch ein bisschen so. Wenn wir bei einem Schnitt am kleinen Finger am liebsten brüllen würden wie ein Kleinkind, reißen wir uns zusammen. Wer will schon als exzentrische Egomanin erscheinen? Schon gar nicht in der Gegenwart von Fremden und Menschen, an deren Achtung uns liegt. Den Zensor haben wir durch unsere Erfahrung mit anderen Menschen internalisiert. Er sagt einem, wann man schreien darf und wann nicht, wann man mehr Mitgefühl und Empörung entwickeln sollte und wann weniger.
Vermutlich wirkt sich die exzessive Nutzung von sozialen Medien auf diesen inneren Kontrolleur der emotionalen Reaktionen aus. Im Gespräch mit Kolleginnen oder Nachbarn wird unser Bild von der Wirklichkeit durch die Konfrontation mit anderen Meinungen immer wieder zurechtgerückt. Viele Chats werden aber vor allem genutzt, um mit Gleichgesinnten zu kommunizieren. Das verstärkt Vorurteile und Feindbilder, statt sie zu hinterfragen. Gleichzeitig enthemmt die Kommunikation ohne physische Präsens die Affekte. Maßvolle Personen verlassen erschrocken den Chatraum. Zurück bleibt der falsche Eindruck, dass die Überspannten und Aggressiven die Mehrheit und die neue Normalität sind. Der konventionelle innere Prüfer verwandelt sich in einen Aufpeitscher.
Unsere Autorin ist Philosophie-professorin an der Ruhr-universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.