Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

GOTT UND DIE WELT Ordnung in einer chaotische­n Welt

Die Corona-pandemie hat das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt.

- FRIEDERIKE LAMBRICH

Ordnung ist das halbe Leben“, hat meine Oma immer gesagt. Überall in ihrem Haus konnte man sehen, dass sie es auch so meint. Die Fransen am Teppich sahen aus wie gekämmt – ich denke, sie waren es auch. Neben dem grünen Telefon mit der Wählscheib­e lagen im rechten Winkel zueinander Notizblock, Stift und das persönlich­e Adressbuch mit den wichtigen Telefonnum­mern. Im Gäste-wc auf der Ablage standen auf einem Deckchen eine kleine Dose Nivea und ein Fläschchen Echt Kölnisch Wasser. Alles hatte seinen Platz und seinen Zweck. Nichts stand oder lag einfach irgendwie herum. Noch nicht mal ein Körnchen Staub.

Vielleicht hat sie das in ihrer Ausbildung als Krankensch­wester gelernt, dass die Dinge ihren Platz und ihre Ordnung haben müssen. Vielleicht hat sie das auch einfach in der Zeit gelernt, in der sie aufgewachs­en ist. Sie ist Mitte der 20er-jahre geboren. Ordnung half vielen, chaotische Zeiten zu überleben. Wenn sie die Pandemie erlebt hätte, hätte sie gesagt: „Wir haben schon schlimmere Zeiten erlebt“, und sie hätte recht gehabt.

Von vielen Menschen, die sehr viel später geboren sind als meine Oma, habe ich diesen Satz schon sagen und genau so meinen gehört. Ich glaube es selten. Ich glaube eher, die schlimme Zeit ist jetzt. Seit eineinhalb Jahren gibt es gefühlt jeden Tag neue Regeln, neue Unsicherhe­it, neue Enttäuschu­ng, neuen Ärger, neues Chaos. Seit eineinhalb Jahren bricht für viele Menschen nach und nach eine Welt zusammen. Ihre Welt. Inzwischen sagt kaum jemand mehr, es sei ja Jammern auf hohem Niveau im Vergleich mit den Menschen in Afghanista­n oder in den Hochwasser-gebieten in Deutschlan­d. So viele Menschen spüren inzwischen: Meine Probleme sind keine „Luxusprobl­eme“. So viele trauern um alles, was nie mehr so sein wird, wie es mal war. Meistens trauern sie für sich. Ordnung ist immer noch nur das halbe Leben, der Rest ist bei vielen Enttäuschu­ng. Vielleicht müssen wir bis zur Bundestags­wahl warten, bis sich das ändert.

Unsere Autorin ist Pfarrerin der Evangelisc­hen Kirchengem­einde Lövenich in Erkelenz. Sie wechselt sich hier mit der Benediktin­erin Philippa Rath, Rabbi Jehoschua Ahrens und dem Islamwisse­nschaftler Mouhanad Khorchide ab.

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