Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Das Woodstock der 90er-jahre
Ein Dokumentarfilm bringt einen magischen Moment der Popgeschichte ins Kino: Oasis spielten 1996 vor 250.000 Fans in Knebworth. Der Auftritt gilt als größtes Konzert des Jahrzehnts.
Das ist ein Film über den perfekten Konzertmoment, über dieses nicht zu übertreffende Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Geborgenseins im Sound. Regisseur Jake Scott erzählt von diesem magischen Augenblick anhand des Ereignisses, das als maßgebliches Konzert der 90er-jahre gilt, als Woodstock jener Dekade: der legendäre Auftritt der britischen Band Oasis in Knebworth 1996. An zwei Abenden trat die Gruppe vor je 125.000 Fans auf, manche Quellen sprechen sogar von je 150.000 Menschen. Es war der größte Gig, den die Insel je erlebt hat. Groß in jeder Hinsicht. Man muss nur sehen, was im Publikum los war, als Oasis ihren Hit „Supersonic“beginnen: Welt aus Euphorie, Menschen im Glück, Zeit steht still.
„Oasis Knebworth 1996“heißt die Dokumentation, die am Donnerstag ins Kino kommt. Knebworth ist ein mythischer Ort des britischen Pop. Seit 1974 treten dort die Giganten unter freiem Himmel auf: Led Zeppelin, Pink Floyd, die Stones. Sie alle versammelten mächtige Menschenmengen, aber Oasis sind bis heute der Superlativ. 2,5 Millionen Fans bemühten sich um Karten.
Und der Film beginnt genau dort: bei dem Kampf, überhaupt ein Ticket zu ergattern. Knebworth-veteranen erzählen in herrlich breitem Englisch, wie sie in Prä-internetZeiten fünf Stunden am Telefon in der Küche der Eltern hingen oder auf dem Treppenabsatz oder bei der Oma. Sie erschraken, als sie endlich durchkamen, „really?“, und sie flippten aus, als sie gesagt bekamen: „Sie haben die Karte.“Preis: 22,50 Pfund.
Der Zuschauer begleitet Fans bei der oft beschwerlichen Anreise ins Dörfchen Knebworth in der Grafschaft Hertfordshire: Autos mit kaputtem Motor, überfüllte Busse mit betrunkenen Fans und ohne Toilette, Züge voller Menschen mit OasisT-shirt und Bierdose. Diese epische
Ouvertüre ist nötig, nur ein Kenner und Liebhaber baut einen solchen Film derart auf, denn nur so stellen sich beim Zuschauer die Armhaare auf, wenn er schließlich dieses endlos groß wirkende Gelände erblickt, auf dem sich nachmittags die Menge sammelt, um mit den Chemical Brothers und The Prodigy vorzuglühen: „Today is gonna be the day.“
Das ist das Prinzip dieses Films, dass ausgewählte Zeugen aus dem Off kommentieren, wie es damals zugegangen ist. „Der Geruch von Hot Dogs und Bier“, sagt einer, „die Nervosität, die immer dichter und greifbarer wurde, und dann allmählich der Sonnenuntergang“. Auf gigantischen Leinwänden begann ein Countdown, alle zählten mit, und bei Null betrat die Band die Bühne: Liam Gallagher in einer schneeweißen Jacke und mit diesem schlurfenden Rampensau-gang, den er sich in jahrelangem Beatles-studium angeeignet hat. Einmal springt er von der Bühne ins Publikum. Eine Frau, die ihn am Handgelenk berührte, sagt heute: „Er war wie ein Engel.“
Oasis waren 1996 auf dem Höhepunkt. Sie hatten soeben „( What's The Story) Morning Glory?“veröffentlicht, eine Platte, die für das Konzept von Britishness so wichtig ist wie „Sgt. Pepper“. Brit Pop eroberte sogar die amerikanischen Charts, die Zeitungen schrieben, dass es seit 1966 nicht mehr so schön gewesen sei auf der Insel. „Es war meine Zeit“, sagt Noel Gallagher: „Ich schrieb ,Wonderwall' und ,Don't Look Back in Anger' in derselben Woche.“Seine Band drückte Hit um Hit in die dankbare Menge: „Some Might Say“, „Live Forever“, „Cigarettes & Alcohol“.
Der Film bietet Songs aus dem Konzert, Szenen aus dem Publikum, Aufnahmen von den Proben und aus dem Backstage-bereich. Liam Gallagher und seine damalige Frau, die frühere Eighth-wonder-sängerin Patsy Kensit, sind das heimliche Königspaar Englands, und Gallagher hat das Glück, dass sein Bruder der beste Songwriter seiner Generation war: Man spürt das spätestens, als Noel Gallagher „The Masterplan“singt: Alle sind still, viele schlucken, manche weinen. Wer je eines der frühen Konzerte dieser Gruppe erlebt hat, wird wissen, wie gigantisch die Szenen wirken, in denen Liam Gallagher alleine ans äußerste Ende der Bühne schreitet und traumverloren dasteht als menschlicher Brückenkopf zum Himmel. Es ist wie unter Wasser zu sein, aufgehoben im Augenblick. „Du warst da, um mitzusingen, und nicht, um es bei Twitter zu posten“, sagt einer über diese Abende.
Oasis umgaben sich mit WorkingClass-flair und pflegten die Tradition. Sie blendeten ein Porträt von John Lennon ein und verbeugten sich vor dessen Konterfei. Sie coverten „I Am The Walrus“von den Beatles und baten John Squire von der bewunderten Band Stone Roses auf die Bühne, um gemeinsam „Champagne Supernova“zu spielen. „Sie waren wie wir. Sie waren wir“, sagt ein Fan. „Wir waren nicht da, um sie zu sehen. Sie waren da, um uns zu sehen.“
Besonders schön sind die Szenen nach Ende des Konzerts. Selige Gesichter, Fremde Arm in Arm, knutschende Paare. Längst hatte dichter Regen eingesetzt.
Einer, der zu den letzten gehörte, die diesen unwirklichen Ort verließen, sah ein Auto mit getönten Scheiben kommen. Er klopfte ans Fenster und fragte, ob man ihn bis zur Bahnstation mitnehmen könne. Erst da merkte er, dass das Supermodel Kate Moss im Wagen saß. „Steig ein“, sagte sie.
Am Schluss des Films sagt Noel Gallagher, er glaube, dass Songs Wirklichkeit werden, wenn so viele Menschen sie gemeinsam singen und mit ihren Erfahrungen anreichern.
Das Kino verlässt man mit einem Ohrwurm: „You and I are gonna live forever“.