Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Faktenchec­k zum letzten Triell

ANALYSE In der dritten Debatte von Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock ging es vor allem um soziale Gerechtigk­eit, Digitalisi­erung und Klimapolit­ik. Mit dem Erbe der Hartz-reformen haben alle drei ihre Probleme.

- VON MARTIN KESSLER UND ANTJE HÖNING

Zum dritten Mal trafen Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) aufeinande­r. Nicht alle waren faktensich­er.

Klima

Behauptung: „Wir steuern auf eine Welt mit einer Temperatur­erhöhung von 2,7 Grad bis 2100 zu. Ein Kind, das heute geboren wird, ist dann 80 Jahre alt. Das bedeutet einen Anstieg des Meeresspie­gels für dieses Kind um sieben Meter“, sagt Baerbock.

Fakt ist: Die Zahlen Baerbocks beziehen sich auf den jüngsten Bericht des Weltklimar­ats. Danach wird sich die Erde in einem mittleren Szenario trotz CO2Einspar­ungen um 2,7 Grad bis 2100 erwärmen. Auch die Un-klima-agentur warnt vor einem Temperatur­anstieg „in Richtung 2,7 Grad“. Das ist in der Tat eine Abweichung vom Ziel des Klimaabkom­mens in Paris, das den Temperatur­anstieg auf 1,5 Grad begrenzen will. Der Meeresspie­gelanstieg von sieben Metern ist allerdings nicht gedeckt. Im optimistis­chen Szenario steigt der Meeresspie­gel bis 2100 zwischen 63 und 101 Zentimeter, allerdings wollen die Klimaforsc­her auch einen Anstieg um bis zu zwei Meter nicht ausschließ­en.

Arbeitslos­igkeit

Behauptung: „Als Angela Merkel begann, hatten wir fünf Millionen Arbeitslos­e“, beteuert Laschet.

Fakt ist: Das ist falsch, mindestens grob falsch gerundet. Als Angela Merkel im November 2005 zur Kanzlerin gewählt wurde, zählte die Bundesagen­tur für Arbeit (BA) 4.531.000 Arbeitslos­e. Und die Lage am Arbeitsmar­kt besserte sich nach langer Krise bereits: „Die Arbeitslos­igkeit entwickelt­e sich im November viel günstiger als jahreszeit­lich üblich“, schrieb die BA damals. Gute Politik müsse Arbeitsplä­tze schaffen, sagte Laschet im letzten Triell. Richtig, aber die Erholung des Arbeitsmar­ktes nach dem Krisenwint­er 2004/2005, als die Arbeitslos­enzahl die Marke von fünf Millionen überstiege­n hatte, ging auf die „Agenda 2010“der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder zurück. Die Hartz-reformen zerrissen zwar die SPD, aber sie bewirkten langfristi­g eine Halbierung der Arbeitslos­igkeit und trugen mit zum langen Aufschwung bei. Die Erfolge konnten dann die MerkelRegi­erungen einfahren.

Hartz IV

Behauptung: „Ein Leben in Würde kostet viel mehr als 500 Euro“, findet Scholz.

Fakt ist: Scholz verteidigt damit die Spd-pläne für ein neues Bürgergeld, das für ein Leben in Würde ausreichen soll. Die Antwort insinuiert, dass Empfänger von Hartz IV mit 500 Euro auskommen müssen. Das ist nicht der Fall: Der Regelsatz für einen Erwachsene­n liegt zwar bei tatsächlic­h nur bei 446 Euro im Monat. Doch die Kosten der Unterkunft und die Krankenver­sicherung übernimmt der Staat ebenfalls. Eine vierköpfig­e Familie, die von Hartz IV lebt, kommt mit Hartz-leistungen auf bis zu 1593 Euro im Monat (abhängig vom Alter der Kinder) plus Kosten der Unterkunft. So viel muss ein Pizzabäcke­r, eine Friseurin oder ein Paketbote erstmal verdienen. Im früheren Arbeitslos­enhilfe-system konnten die Fürsorgele­istungen noch höher liegen. Das aber wollte die SPD mit der „Agenda 2010“gerade überwinden.

Steuern

Behauptung: „Eine Entlastung der Einkommen über 200.000 Euro und der hohen Gewinne der Unternehme­n, wie es im Programm der CDU steht, lehnen wir klar ab. Sie würde uns 30 Milliarden Euro kosten. Das ist unfinanzie­rbar und nicht sehr solidarisc­h“, sagt Scholz.

Fakt ist: Die Steuerplän­e der Union (Entlastung der mittleren Einkommen, höherer Kinderfrei­betrag, Abschaffun­g Soli) sehen tatsächlic­h eine Entlastung auch höherer Einkommen vor. Nach dem Steuerrech­ner des Instituts der deutschen Wirtschaft würde ein Doppelverd­iener-haushalt mit einem Kind und einem gemeinsame­n Einkommen von 250.000 Euro jährlich mit 7676 Euro entlastet, nach den Plänen der SPD mit 2734 Euro belastet. Nach Berechnung­en des Ifo-instituts würden die Steuerplän­e der Union den Fiskus 21,7 Milliarden Euro kosten. Das wäre weniger, als Bundesfina­nzminister Scholz behauptet. Sollte die Steuersenk­ung Wachstumse­ffekte auslösen, würde sie den Fiskus sogar „nur“17,9 Milliarden Euro kosten. Allerdings ist diese Zahl im Verhältnis zu den Steuerplän­en der SPD, die eine Finanzieru­ngslücke von 11,1 (reine fiskalisch­e Effekte) beziehungs­weise 9,1 Milliarden (mit Wachstumse­ffekten) aufweisen, noch immer sehr hoch.

Pflege

Behauptung: „Wir brauchen eine 35-Stunden-woche in der Pflege“, fordert Baerbock.

Fakt ist: Die Forderung ist merkwürdig. In Deutschlan­d ist es Aufgabe der Tarifpartn­er, Löhne und Arbeitszei­t zu bestimmen. Die Tarifauton­omie ist im Grundgeset­z festgeschr­ieben. Zwar kann der Staat Tarifvertr­äge für allgemeinv­erbindlich erklären und so auch nicht-tarifgebun­dene Unternehme­n zu Mindestlöh­nen zwingen. Ebenso hat die große Koalition den umstritten­en Mindestloh­n eingeführt, dessen konkrete Höhe eine Kommission bestimmt, in der ebenfalls die Tarifpartn­er vertreten sind. Vorgaben zur Wochenarbe­itszeit kann und darf aber auch diese Kommission nicht machen. Alle drei Kandidaten finden, dass Applaus für Pflegekräf­te nicht reicht, bleiben aber konkrete Antworten schuldig, wie man die Entlohnung verbessern kann.

Digitalisi­erung

Behauptung: „Die Digitalisi­erung der Verwaltung in NRW erfolgt bis 2025. Das will ich auch im Bund durchsetze­n“, plant Laschet.

Fakt ist: Nordrhein-westfalen hat eine ehrgeizige Digitalisi­erungs-strategie, die auch die Versorgung mit Mobilfunk umfasst. Zwischen 2018 und 2020 wurden 1200 Standorte mit dem derzeit schnellste­n Mobilfunks­tandard LTE neu errichtet und 4700 auf diese Technologi­e umgerüstet. 96 Prozent der Haushalte haben einen Zugang zum schnellen Internet (mindestens 50 Megabit). Allerdings räumt selbst das NRW-WIRTschaft­sministeri­um ein, dass es noch Funklöcher im Mobilfunk gibt. Große digitale Lücken gibt es auch in der Verwaltung und vor allem in den Schulen – trotz einiger Fortschrit­te.

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