Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die westliche Supermacht unter Anklage

Der frühere Chefredakt­eur der „Wirtschaft­swoche“, Stefan Baron, rechnet ziemlich einseitig mit den USA ab.

- VON MARTIN KESSLER

Die Neuvermess­ung der Welt nennt der bekannte Publizist Stefan Baron sein jüngstes Werk im Untertitel. Und das Buch hält, was dieser verspricht. Der frühere langjährig­e Chefredakt­eur des Magazins „Wirtschaft­swoche“vermisst in einer aus vielen Quellen gespeisten Analyse die drei großen globalen Machtblöck­e USA, Europa und China/asien neu. Bisweilen erweckt er den Eindruck, dass er gleich dem berühmten Mathematik­er Carl-friedrich Gauß die Geodäsie der Erde neu entwickelt – mit einem Ansatz, der für westliche Beobachter eher ungewöhnli­ch ist. Denn für ihn, den ausgewiese­nen China-kenner, sind nicht mehr die Vereinigte­n Staaten der Dreh- und Angelpunkt der Welt, sondern das Reich der Mitte mit seiner Führung durch die Kommunisti­sche Partei.

Der Ansatz ist reizvoll und innovativ. Leider verfällt der Autor genau in das Schema, das er seinem großen Feindbild USA vorwirft. Es gibt die Welt der Vernünftig­en und Zivilisier­ten, zu der Baron die Chinesen (und auch die Europäer) zählt. Und es gibt eine anmaßende Großmacht, die für fast alles gegenwärti­ge Leid der Menschheit verantwort­lich ist.

Man muss zugeben, dass der frühere „Spiegel“-journalist seinem Handwerk treu geblieben ist. Als Magazin-schreiber geht es vor allem um eine klare These, die bedingungs­los durchzudek­linieren ist. Und die heißt: Die Vereinigte­n Staaten sind eine unheilvoll­e Großmacht, die in ihrer Agonie (weil sie an Bedeutung verliert) noch einmal alle Kräfte zur Weltbeherr­schung einsetzt. Schon in der Einleitung des Buches zieht der Autor das Fazit: „Die USA gelten inzwischen als größte Bedrohung für den Frieden in der Welt.“

Zugleich bescheinig­t Baron der Führungsma­cht des Westens, dass sie als einstiges Land der Freiheit, Chancengle­ichheit und Demokratie zu einer „Oligarchie verkommen“sei. Der Rechtsstaa­t weise Risse auf, die Mittelschi­cht schmilze dahin, soziale Ungleichhe­it und Rassismus prägten die Gesellscha­ft.

Dagegen sei vom fernen China außer einer „verschärft­en Konkurrenz kaum etwas zu befürchten“. Und ausgerechn­et das dauerzerst­rittene Europa könne den Antagonism­us zwischen den beiden Supermächt­en auflösen.

Diese Melodie trägt Baron durch sämtliche 444 Seiten des Buches – mit unzähligen, durchaus interessan­ten Beispielen. Im ersten Teil wird der Epochenwec­hsel beschriebe­n, wobei dem Abstieg Amerikas viel Platz eingeräumt wird. Man sieht eine aggressive Großmacht, die sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als gnadenlose Vollstreck­erin ihrer imperialen Ziele erweist, sich aber permanent überhebt. Ob Osterweite­rung, Umbau der sozialisti­schen Planwirtsc­haften, der demokratis­che Prozess der Ukraine, die Annexion der Krim oder der Kampf Hongkongs um seine Freiheiten – überall mischen die Agenten der USA mit, um die Interessen des Landes auf Kosten der übrigen Welt durchzuset­zen.

Während China mit der Neuen Seidenstra­ße und seinem zweifellos hohen technologi­schen Potenzial den Europäern Angebote macht, versuchen die USA die aufstreben­de Großmacht mit allen Mitteln kleinzuhal­ten, sogar eine militärisc­he Auseinande­rsetzung will Baron nicht ausschließ­en. Für die EU bleibt deshalb als einzige lebensrett­ende Option, sich vom einstigen Verbündete­n abzuwenden und als eigenständ­ige Macht ihre Interessen mit Großmächte­n wie China abzugleich­en.

Es ist durchaus fasziniere­nd, wie Baron mit geschickt gewählten Beispielen seine These untermauer­t. Die Kunst liegt im Weglassen und in der Abschwächu­ng der hässlichen Seiten des asiatische­n Aufsteiger­s. Dass die USA noch immer der Garant der Unabhängig­keit der Europäer gegen die Atommächte Russland und China sind und ihren Verbündete­n eine beispiello­se wirtschaft­liche Entwicklun­g nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht haben, blendet der Autor genauso aus wie den erklärten Willen der chinesisch­en Führung nach Suprematie, wobei ihr die florierend­e Wirtschaft in staatskapi­talistisch­er Einbindung als Mittel dient. So ist die brutale Unterdrück­ung der Minderheit der Uiguren, die genozidhaf­te Züge trägt, mal eine Übertreibu­ng amerikanis­cher Eiferer oder bestenfall­s eine, na ja, „grobe Verletzung der Menschenre­chte“. Die Politik des Wegschauen­s am Beginn der Corona-krise, die das Virus schnell in alle Welt getragen hat, wird als bedauerlic­h hingestell­t. Aber dann gibt es seitenweis­e Lob über die konsequent­e Eindämmung der Pandemie, während der Westen eine schnelle Reaktion verpasste.

Baron hat recht, wenn er dazu aufruft, China ernst zu nehmen und sich auf die neue Weltmacht einzustell­en. Das wird künftig eine Mischung aus Konfrontat­ion und Kooperatio­n sein. Doch das dürfte Europa nur gelingen, wenn es weiterhin an der Seite der Vereinigte­n Staaten steht. Denn bei allen berechtigt­en Mängeln auf Seiten der westlichen Führungsma­cht – noch der bedauernsw­erteste Amerikaner würde lieber in den USA leben wollen als im totalitäre­n chinesisch­en Überwachun­gs-„paradies“. Doch allein um sich damit gründlich auseinande­rzusetzen, ist das Buch allemal lesenswert.

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 ??  ?? Stefan Baron: Ami go home! Eine Neuvermess­ung der Welt; Econ-verlag, 444 Seiten, 25 Euro
Stefan Baron: Ami go home! Eine Neuvermess­ung der Welt; Econ-verlag, 444 Seiten, 25 Euro

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