Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Menschen als moderne Nomaden

Parag Khanna zeichnet eine neue Zivilisati­on, die durch Migration geprägt ist.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Es dürfte wenige so wissenscha­ftlich und empirisch fundierte Experten für globale Entwicklun­gen geben wie Parag Khanna. Geboren 1977 in Indien, aufgewachs­en in Dubai, den USA und Deutschlan­d, studiert an der Georgetown University in Washington und an der London School of Economics, danach Stationen in New York, im Irak, in Afghanista­n, in Kanada, Berlin und New Delhi, jetzt Professor in Singapur. Die Aufzählung dieser biografisc­hen Stationen ist auch ein Verweis auf Länder, über die er in seinem Buch „Move“schreibt.

Seine fachwissen­schaftlich­e Basis ist die Humangeogr­afie, digitale Kommunikat­ion eine Selbstvers­tändlichke­it. Er versteht weltweite zukünftige Migrations­ströme als nicht überrasche­nd. Migration ist menschlich und Mobilität damit Schicksal. Derzeit sind rund 250Million­en Menschen Migranten, drei Prozent der Weltbevölk­erung, prozentual wesentlich weniger als Endes des 19. Jahrhunder­ts, damals waren es 14 Prozent. Die drei Prozent heute aber erbringen zehn Prozent der Weltwirtsc­haftsleist­ung. Das erklärt, warum Migration zunehmen wird, wegen des internatio­nalen Wettbewerb­s um Talente und der Suche nach gut bezahlter Arbeit und auskömmlic­hen Lebensverh­ältnissen – egal wo in der Welt.

Um diese Talente wird in Ländern mit abnehmende­n Geburtenza­hlen gekämpft. Zudem lassen die nach 1985 geborenen Generation­en die Weltbevölk­erung perspektiv­isch schrumpfen. Die jungen Leute sind sich in ihrem Verhalten global nahe, Khanna sieht sogar eine globale Identität der jungen Generation.

Entscheide­nder Grund für die weltweiten Migratione­n aber ist die Erderwärmu­ng. Sie hat bereits stattgefun­den und lässt sich nicht rückgängig machen. Die Folge sind Wanderunge­n in Richtung nördliche Halbkugel. Die von der Klimaerwär­mung hauptbetro­ffenen Erdteile Afrika und Lateinamer­ika befinden sich in einem Zustand der Unregierba­rkeit (Afrika) oder als „verlorener

Kontinent“(Lateinamer­ika). Eine Alternativ­e im Süden der Halbkugel besteht nicht, es sei denn – so Khanna – in der Antarktis, wenn dort Leben möglich wird.

Wanderunge­n sind globalräum­lich kein Problem. Mehr als 90 Prozent der Landfläche der Erde sind unbewohnt. Die Besiedlung konzentrie­rt sich auf die meeresnahe­n Regionen. Aufnahmelä­nder für die Migration werden Kanada und Russland sein, sie könnten fast die gesamte Agrarprodu­ktion der Welt übernehmen. Migratione­n nach Kanada sind mit denen in den USA verbunden. Schon dort ist eine Nordwärtsb­ewegung zu erwarten – aus dem zu warm werdenden Süden zurück in den Rost Belt im Norden. Kanada kann einen Bevölkerun­gszuwachs von 30 auf 100 Millionen Menschen erwarten, Zentralasi­en einen Zuwachs von 50 auf 300 Millionen, vor allem in Kasachstan. Die Migranten werden überwiegen­d aus dem übervölker­ten Indien kommen. So könnten in Russland und Zentralasi­en eine Milliarde Mensch leben.

Europa hat für Khanna eine Vorbildfun­ktion aufgrund seiner Wohlfahrts­staatlichk­eit. Auch hier wird es Nordwärtsb­ewegungen geben, so aus Spanien nach Skandinavi­en, jedenfalls im Sommer, im Winter mag es umgekehrt sein.

Khanna sieht eine Welt, in der Menschen ständig in Bewegung sind, er nennt sie Quantenmen­schen. Nationalis­tische Restriktio­nen und Regierungs­versagen sieht er durchaus und verurteilt sie: ethnische Homogenitä­t ist eine Illusion, Nationalis­mus verliert den Kampf um Talente. Globale politische Regeln sind erforderli­ch und möglich, etwa ein globaler Reisepass. Die Zukunft der Welt ist die Zivilisati­on 3.0 – mobil und nachhaltig. Siedlungen könnten temporär sein. Immer mehr Menschen werden nomadisch leben, sie werden sich verteilen, doch vernetzt bleiben.

Immer mehr Menschen werden nomadisch leben, sie werden sich verteilen, doch vernetzt bleiben

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Parag Khanna: Move – Das Zeitalter der Migration; Rowohlt-verlag, 448 Seiten, 24 Euro

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