Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Menschen als moderne Nomaden
Parag Khanna zeichnet eine neue Zivilisation, die durch Migration geprägt ist.
Es dürfte wenige so wissenschaftlich und empirisch fundierte Experten für globale Entwicklungen geben wie Parag Khanna. Geboren 1977 in Indien, aufgewachsen in Dubai, den USA und Deutschland, studiert an der Georgetown University in Washington und an der London School of Economics, danach Stationen in New York, im Irak, in Afghanistan, in Kanada, Berlin und New Delhi, jetzt Professor in Singapur. Die Aufzählung dieser biografischen Stationen ist auch ein Verweis auf Länder, über die er in seinem Buch „Move“schreibt.
Seine fachwissenschaftliche Basis ist die Humangeografie, digitale Kommunikation eine Selbstverständlichkeit. Er versteht weltweite zukünftige Migrationsströme als nicht überraschend. Migration ist menschlich und Mobilität damit Schicksal. Derzeit sind rund 250Millionen Menschen Migranten, drei Prozent der Weltbevölkerung, prozentual wesentlich weniger als Endes des 19. Jahrhunderts, damals waren es 14 Prozent. Die drei Prozent heute aber erbringen zehn Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Das erklärt, warum Migration zunehmen wird, wegen des internationalen Wettbewerbs um Talente und der Suche nach gut bezahlter Arbeit und auskömmlichen Lebensverhältnissen – egal wo in der Welt.
Um diese Talente wird in Ländern mit abnehmenden Geburtenzahlen gekämpft. Zudem lassen die nach 1985 geborenen Generationen die Weltbevölkerung perspektivisch schrumpfen. Die jungen Leute sind sich in ihrem Verhalten global nahe, Khanna sieht sogar eine globale Identität der jungen Generation.
Entscheidender Grund für die weltweiten Migrationen aber ist die Erderwärmung. Sie hat bereits stattgefunden und lässt sich nicht rückgängig machen. Die Folge sind Wanderungen in Richtung nördliche Halbkugel. Die von der Klimaerwärmung hauptbetroffenen Erdteile Afrika und Lateinamerika befinden sich in einem Zustand der Unregierbarkeit (Afrika) oder als „verlorener
Kontinent“(Lateinamerika). Eine Alternative im Süden der Halbkugel besteht nicht, es sei denn – so Khanna – in der Antarktis, wenn dort Leben möglich wird.
Wanderungen sind globalräumlich kein Problem. Mehr als 90 Prozent der Landfläche der Erde sind unbewohnt. Die Besiedlung konzentriert sich auf die meeresnahen Regionen. Aufnahmeländer für die Migration werden Kanada und Russland sein, sie könnten fast die gesamte Agrarproduktion der Welt übernehmen. Migrationen nach Kanada sind mit denen in den USA verbunden. Schon dort ist eine Nordwärtsbewegung zu erwarten – aus dem zu warm werdenden Süden zurück in den Rost Belt im Norden. Kanada kann einen Bevölkerungszuwachs von 30 auf 100 Millionen Menschen erwarten, Zentralasien einen Zuwachs von 50 auf 300 Millionen, vor allem in Kasachstan. Die Migranten werden überwiegend aus dem übervölkerten Indien kommen. So könnten in Russland und Zentralasien eine Milliarde Mensch leben.
Europa hat für Khanna eine Vorbildfunktion aufgrund seiner Wohlfahrtsstaatlichkeit. Auch hier wird es Nordwärtsbewegungen geben, so aus Spanien nach Skandinavien, jedenfalls im Sommer, im Winter mag es umgekehrt sein.
Khanna sieht eine Welt, in der Menschen ständig in Bewegung sind, er nennt sie Quantenmenschen. Nationalistische Restriktionen und Regierungsversagen sieht er durchaus und verurteilt sie: ethnische Homogenität ist eine Illusion, Nationalismus verliert den Kampf um Talente. Globale politische Regeln sind erforderlich und möglich, etwa ein globaler Reisepass. Die Zukunft der Welt ist die Zivilisation 3.0 – mobil und nachhaltig. Siedlungen könnten temporär sein. Immer mehr Menschen werden nomadisch leben, sie werden sich verteilen, doch vernetzt bleiben.
Immer mehr Menschen werden nomadisch leben, sie werden sich verteilen, doch vernetzt bleiben