Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Proteste ohne Mindestabstand
Ein Sammelband beleuchtet umfassend die Aktionen der Querdenker.
Wenn Bücher Orientierung geben, Zusammenhänge herausarbeiten, schleichende Fehlentwicklungen so deutlich machen, dass jeder Leser nach der Lektüre besser darauf achtet als davor, dann ist eine Empfehlung angebracht. „Fehlender Mindestabstand“, herausgegeben von den beiden Journalisten Heike Kleffner und Matthias Meisner, gehört dazu, wenn auch mit Abstrichen.
Es ist ein Sammelband aus der Feder von mehr als 40 Autoren, die die Auseinandersetzung um die Corona-auflagen auf beinahe vorbildlich-vielseitige Weise aufbereiten. Ein deutliches und immens wichtiges Signal setzen sie mit dem Geleitwort von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er kann damit deutlich machen, dass es bei allen nachfolgenden Aspekten immer auch darum gehen muss, die unheilvollen Folgen der Debatte für immens wachsenden Antisemitismus mitzudenken. Dafür alleine wäre der Buchtitel vom fehlenden Mindestabstand bereits gerechtfertigt. Wem sein Anliegen wichtiger ist als die Distanz zu Antisemiten, der steht auf der falschen Seite der deutschen Geschichte. Daher ist es gut, die Grenzen in einem Buch wieder und wieder zu markieren. Die Herausgeber fügen im Weiteren den fehlenden Mindestabstand vieler Demonstranten zu offenen Lügen und Desinformationen hinzu und warnen vor einer Verschiebung des politischen Koordinatensystems.
Schusters Einleitung ist aber noch aus einem weiteren Grund von überragender Bedeutung. Er geht nämlich bereits nach wenigen Sätzen auf das Phänomen einer zuvor nie gekannten Mischung ein: „Rechtsextremisten neben linken Impfgegnern, Esoteriker neben christlichen Gruppen, Öko-latschen neben Springerstiefeln.“Das ohne ideologische Scheuklappen zunächst zu beleuchten, ist ein weiteres Verdienst des Buches, das den ausschließlich linken „Urknall“in Berlin der oft allein rechts verorteten Protestbasis an den Anfang stellt. Es wäre deshalb reizvoll gewesen, mögliche Parallelen rechter und linker Radikalität an einem besonders offensichtlichen Beispiel näher zu analysieren, statt die Hufeisentheorie lapidar als „längst verworfen“gleich wieder zu den Akten zu legen.
Die Stärke des Buches legt zugleich eine Schwäche offen: Die Herausgeber haben horizontal und vertikal immens viele Aspekte einsammeln können – von interessanten Vergleichen mit der Entwicklung in Frankreich, Österreich, Tschechien und den USA über eine vertiefte Betrachtung der Bewegungen in der rechten Szene bis hin zum Hintergrund der wichtigsten Protest-aktivisten. Sie konnten dabei offenbar auf die Überarbeitung zur Jahreswende bereits erschienener Beiträge zurückgreifen. Damit fehlte jedoch zugleich eine Verständigung der Autoren untereinander. So kommt es zur ständigen Wiederholung derselben Fakten in einer für den Leser des Gesamtwerkes lästigen Weise.
Obwohl es sich um eine große Vielzahl von Beiträgen handelt, fehlt letztlich eine Diskussion über pointierte Thesen einzelner Autoren. So etwa bei der Behauptung, dass der Menschheit nur mit der Freigabe der Impfstofflizenzen gedient sei. Wenn in diesem Zusammenhang abschließend die Kritik an Bill Gates aus Sicht der Verschwörungsmythen zurückgewiesen und im selben Atemzug aus kapitalismusfeindlicher Motivation sogar verstärkt wird, entsteht ein eigenartiger Schulterschluss und man wünscht dem Buch, selbst konsequenter mit dem Mindestabstand umgegangen zu sein.