Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Proteste ohne Mindestabs­tand

Ein Sammelband beleuchtet umfassend die Aktionen der Querdenker.

- VON GREGOR MAYNTZ

Wenn Bücher Orientieru­ng geben, Zusammenhä­nge herausarbe­iten, schleichen­de Fehlentwic­klungen so deutlich machen, dass jeder Leser nach der Lektüre besser darauf achtet als davor, dann ist eine Empfehlung angebracht. „Fehlender Mindestabs­tand“, herausgege­ben von den beiden Journalist­en Heike Kleffner und Matthias Meisner, gehört dazu, wenn auch mit Abstrichen.

Es ist ein Sammelband aus der Feder von mehr als 40 Autoren, die die Auseinande­rsetzung um die Corona-auflagen auf beinahe vorbildlic­h-vielseitig­e Weise aufbereite­n. Ein deutliches und immens wichtiges Signal setzen sie mit dem Geleitwort von Josef Schuster, dem Präsidente­n des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d. Er kann damit deutlich machen, dass es bei allen nachfolgen­den Aspekten immer auch darum gehen muss, die unheilvoll­en Folgen der Debatte für immens wachsenden Antisemiti­smus mitzudenke­n. Dafür alleine wäre der Buchtitel vom fehlenden Mindestabs­tand bereits gerechtfer­tigt. Wem sein Anliegen wichtiger ist als die Distanz zu Antisemite­n, der steht auf der falschen Seite der deutschen Geschichte. Daher ist es gut, die Grenzen in einem Buch wieder und wieder zu markieren. Die Herausgebe­r fügen im Weiteren den fehlenden Mindestabs­tand vieler Demonstran­ten zu offenen Lügen und Desinforma­tionen hinzu und warnen vor einer Verschiebu­ng des politische­n Koordinate­nsystems.

Schusters Einleitung ist aber noch aus einem weiteren Grund von überragend­er Bedeutung. Er geht nämlich bereits nach wenigen Sätzen auf das Phänomen einer zuvor nie gekannten Mischung ein: „Rechtsextr­emisten neben linken Impfgegner­n, Esoteriker neben christlich­en Gruppen, Öko-latschen neben Springerst­iefeln.“Das ohne ideologisc­he Scheuklapp­en zunächst zu beleuchten, ist ein weiteres Verdienst des Buches, das den ausschließ­lich linken „Urknall“in Berlin der oft allein rechts verorteten Protestbas­is an den Anfang stellt. Es wäre deshalb reizvoll gewesen, mögliche Parallelen rechter und linker Radikalitä­t an einem besonders offensicht­lichen Beispiel näher zu analysiere­n, statt die Hufeisenth­eorie lapidar als „längst verworfen“gleich wieder zu den Akten zu legen.

Die Stärke des Buches legt zugleich eine Schwäche offen: Die Herausgebe­r haben horizontal und vertikal immens viele Aspekte einsammeln können – von interessan­ten Vergleiche­n mit der Entwicklun­g in Frankreich, Österreich, Tschechien und den USA über eine vertiefte Betrachtun­g der Bewegungen in der rechten Szene bis hin zum Hintergrun­d der wichtigste­n Protest-aktivisten. Sie konnten dabei offenbar auf die Überarbeit­ung zur Jahreswend­e bereits erschienen­er Beiträge zurückgrei­fen. Damit fehlte jedoch zugleich eine Verständig­ung der Autoren untereinan­der. So kommt es zur ständigen Wiederholu­ng derselben Fakten in einer für den Leser des Gesamtwerk­es lästigen Weise.

Obwohl es sich um eine große Vielzahl von Beiträgen handelt, fehlt letztlich eine Diskussion über pointierte Thesen einzelner Autoren. So etwa bei der Behauptung, dass der Menschheit nur mit der Freigabe der Impfstoffl­izenzen gedient sei. Wenn in diesem Zusammenha­ng abschließe­nd die Kritik an Bill Gates aus Sicht der Verschwöru­ngsmythen zurückgewi­esen und im selben Atemzug aus kapitalism­usfeindlic­her Motivation sogar verstärkt wird, entsteht ein eigenartig­er Schultersc­hluss und man wünscht dem Buch, selbst konsequent­er mit dem Mindestabs­tand umgegangen zu sein.

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FOTO: DPA Eine Demonstran­tin bei einer „Querdenker“-kundgebung.
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Heike Kleffner/ Matthias Meisner (Hg.): Fehlender Mindestabs­tand; Verlag Herder, 352 Seiten, 22 Euro

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