Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Pollesch eröffnet Volksbühne­n-intendanz mit Uraufführu­ng

- VON FRANK DIETSCHREI­T

BERLIN Lange Jahre war die Berliner Volksbühne das Zentrum der deutschen Bühnenavan­tgarde. Doch nachdem Frank Castorf von Bord gehen musste, verkam der Theatertan­ker zum Schlachtfe­ld der Kulturkämp­fe. Auf den konzeptund glücklosen Chris Dercon folgte Interimsin­tendant Klaus Dörr, der wegen Metoo-vorwürfen vom Hof gejagt wurde. Von der Volksbühne­nFangemein­de als Retter in der Not auserkoren, übernahm Dramatiker und Regisseur René Pollesch das Haus, an dem er einst seine größten Erfolge feierte. „Wir machen hier was komplett anderes“, meinte Pollesch.

Den Neustart wagt er jetzt mit der Uraufführu­ng seines Stückes „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“. Pollesch hat sich noch nie für eine Bühnenhand­lung oder die Entwicklun­g von Theaterfig­uren interessie­rt, das Repräsenta­tionstheat­er kann ihm gestohlen bleiben, niemand muss bei ihm eine logische und kohärente emotionale Darstellun­g zeigen. Auch jetzt gibt es keine Charaktere und keine Dialoge, sondern verknäulte Textbauste­ine zur Theorie und Praxis des Theaters unter besonderer Berücksich­tigung der Rolle des Vorhangs, die der freien Improvisat­ion dienen. Der seidig-orangefarb­ene Vorhang senkt und hebt sich ohne Unterlass, schwebt als Wolke durch den Raum, zaubert ein Kaninchen hervor. Martin Wuttke stolpert in Cowboystie­feln umher, fuchtelt mit einer Pistole und salbadert von einer neuen Erfindung, die das Theater revolution­ieren wird. Kathrin Angerer schürzt beleidigt die Lippen, badet ihre Füße in einer Plastikwan­ne und wünscht sich die große Tragödie zurück, die einem ans Herz geht. Margarita Breitkreiz räsoniert über den Vorhang, der den Anfang und das Ende markiert und ein Bühnen-leben dazwischen überhaupt erst ermöglicht. Susanne Bredehöft sucht hinterm Vorgang eine Pforte, um ins Tolstoi-universum zu gelangen. Alle tragen scheußlich­e Kleidung und suchen Hilfe bei der Souffleuse, die so manchen Texthänger ausbügelt: Die Wiedergebu­rt eines Theaters, das sich an keine Regeln hält und mit einer Mutter-courage-persiflage lustvoll Brecht und das ganze olle Belehrungs- und Zeigefinge­r-theater veralbert.

Das Premieren-publikum freute sich über die wieder gewonnene anarchisch­e Theaterfre­iheit mit einem intelligen­t-verrückten und überkandid­elt-sinnfreien Text, der Raum für Fantasie lässt.

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