Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Chancenlos bin ich nicht“
HANS-PETER WEISS Der 58-Jährige ging zu den Grünen, als FDP-CHEF Christian Lindner lieber doch nicht regieren wollte. Vier Jahre später kämpft Weiss um das Direktmandat im Wahlkreis Wesel I. Ein Gespräch über Angst vor den Grünen, die RB31 und einen ICE-H
Der Bundestagskandidat der Grünen im Wahlkreis Wesel I spricht im Interview über seine Chancen – und über eine Angst vor seiner Partei.
Herr Weiß, im Wahlkreis Wesel I glaubt die Cdu-abgeordnete Sabine Weiss an ihren Sieg und der Spd-herausforderer Rainer Keller an seinen Sieg. Wieso muss man mit Ihnen rechnen?
WEISS Das ist eine berechtigte Frage. Wenn man sich die Umfragewerte für Deutschland ansieht, sind wir als Grüne mittlerweile hinter SPD und Union gefallen. Aber ich glaube schon, dass die Menschen zwischen Erst- und Zweitstimme unterscheiden. Die Zweitstimme gilt als Kanzlerstimme, und da glaube ich, dass Olaf Scholz momentan der beliebteste ist. Das ist ja auch der Grund, warum die SPD gut dasteht, nicht, weil sie so gute Ideen hätte.
Zweitstimme ist Scholz-stimme, Erststimme ist Weiß-stimme?
WEISS Ich habe in der Vergangenheit bei der Erst- und Zweitstimme häufig anders gewählt. Von daher ist es schwierig, bei den Erststimmen Prognosen zu machen. Manche finden den Direktkandidaten gut, aber die Kanzlerkandidaten nicht. Ich weiß, dass ich die geringsten Chancen von uns dreien habe, aber chancenlos bin ich nicht. Wir versuchen alles, um die Menschen zu überzeugen.
Sie haben als Grüner zwei verschiedene Parteien gewählt?
WEISS Dazu muss ich sagen, dass ich noch nicht so lange bei den Grünen bin.
Seit wann denn?
WEISS Seit Anfang 2018. Bei den Landtagswahlen 2017 habe ich eine Person gewählt, die ich gut kannte, die aber nicht zu den Grünen gehört, weil ich davon überzeugt war, dass sie gute Politik macht. Wenn die Menschen einen näher kennenlernen, kann man schon etwas bewirken. Aber das ist in Corona-zeiten natürlich nicht ganz einfach.
Was machen Sie denn?
WEISS Wir sind unterwegs in den Straßen, auf den Plätzen, gehen auf die Leute zu, sprechen sie an und verteilen Informationsmaterial. Erstwählerbriefe und Flyer haben wir per Post verschickt.
Welche Rolle spielt das Internet?
WEISSWIR machen relativ viel in den sozialen Medien, damit spricht man zwar in der Regel nicht die ältere Generation an, aber die Jüngeren, wobei das auch nur begrenzt gilt. Meine Kinder haben schon gar kein Instagram mehr, die sind jetzt auf Youtube fixiert.
Versuchen Sie, im Internet mit Leuten zu diskutieren?
WEISS Das ist sehr schwierig. Entweder man kriegt volle Zustimmung oder volle Ablehnung. Ganz selten ist auch mal eine Frage dabei, wie ich mir etwas vorstelle. Da lohnt es sich zu antworten. Aber wenn jemand einfach nur schreibt, die Grünen sind Mist, befasse ich mich nicht damit.
Man sieht Sie kaum auf Plakaten.
WEISS Das liegt in erster Linie daran, dass bei den Grünen Themen wichtiger als Personen sind. In meinem Wahlkreis haben wir zehn von 60 Großplakaten und bei den kleinen Plakaten etwa 15 Prozent mit meinem Motiv.
Glauben Sie wirklich, dass Wähler gezielt ihre Stimmen aufteilen?
WEISS Einige tun das schon, wie ältere Wahlergebnisse zeigen. Wenn mir nun jemand am Infostand sagt, dass er Annalena Baerbock nicht als Kanzlerin haben will und deswegen nicht die Grünen wählt, dann erkläre ich der Person, dass sie mich trotzdem wählen kann, mit der Erststimme eben. Anschließend versuche ich sie oder ihn davon zu überzeugen, dass Annalena die bessere Wahl für das Kanzleramt ist.
Hätten Sie bessere Chancen, wenn nicht Baerbock Kanzlerkandidatin wäre, sondern Robert Habeck?
WEISS Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich persönlich finde beide super. Meine Favoritin ist Annalena, früher war es Robert. Je mehr ich über sie erfahren habe, desto besser fand ich sie.
Aber entscheidend ist ja, was der Wähler sagt.
WEISS Als die Kandidatur von Annalena bekanntgegeben wurde, gab es einen richtigen Hype. In der Sonntagsfrage waren wir zeitweise stärkste Partei.
Im April lagen die Grünen bei 28 Prozent, nun bei 15 bis 17.
WEISS Das ist natürlich erschreckend. Wir wissen alle, woran das gelegen hat, es sind einige Fehler passiert, wie zum Beispiel die fehlenden Zitierungen in ihrem Buch oder die zu spät gemeldeten Einkünfte. Dadurch ist aber weder ein Vorteil für Annalena noch irgendein Schaden entstanden. Aber die Medien haben das extrem aufgebläht dargestellt, was übrigens auch für das eine oder andere Versäumnis bei Herrn Laschet gilt.
Dieses Medienargument hört man immer wieder. Auch Peer Steinbrück und Martin Schulz sind am Ende für alles kritisiert worden. Aber die Leute führen ihre eigenen Debatten, gerade bei Twitter. Dafür brauchen die keine Zeitung.
WEISS Das sollte keine Schuldzuweisung sein.
Wir wollten damit auch nicht sagen, dass wir nichts falsch machen. Aber es gibt im Internet eine neue, andere Öffentlichkeit.
WEISS Ja, negative Schlagzeilen verbreiten sich im Netz zehnmal schneller als positive Schlagzeilen. Die Leute suchen immer das Negative, anstatt mal zu schauen, was die Person erreicht hat oder erreichen kann. Es gibt keine Kanzlerin, die keine Fehler macht. Frau Merkel hat zahlreiche Fehler gemacht. Über die Grünen wurden in diesem Wahlkampf so viele „Fake News“verbreitet wie sonst bei keiner Partei. So konnte man zum Beispiel vor ein paar Monaten lesen, dass Annalena Hundehaltung verbieten wolle. Völliger Blödsinn! Aber es hat uns sehr geschadet.
Ohne Hass erklären oder rechtfertigen zu wollen, aber was glauben Sie, weshalb reiben sich diese Leute so hart an den Grünen?
WEISS Ich glaube, das ist Angst. Die wird ja auch gezielt geschürt. Wenn die Grünen regieren, heißt es, verlieren alle ihre Jobs, dann kommt die Klimadiktatur, das Leben ist nicht mehr wie früher. Wir wissen ja alle, dass das nicht stimmt. Bei einem Youtube-video von mir hat letztens jemand als Kommentar geschrieben, dass die Grünen alle dicke Bonzen-autos fahren, die sie nicht selbst bezahlen, aber dann für den Klimaschutz werben. Das ist einfach gelogen. Der einzige Grüne, der so ein Auto fährt, ist Winfried Kretschmann als Ministerpräsident von Baden-württemberg. Ich fahre immer mit dem Fahrrad und versuche, den Menschen vorzuleben, wie man es besser macht. Das zeigt Wirkung, in meinem Umfeld fahren jetzt auch mehr Leute Fahrrad.
Aber so verändern Sie doch die Gesellschaft nicht, in dem Sie es nur vormachen. Die Grünen haben doch auch Verbote vorgeschlagen. WEISS Alle Parteien haben Verbote in ihren Wahlprogrammen. Was meinen Sie denn konkret?
Die Debatte über Inlandsflüge etwa. WEISS Bei den Inlandsflügen kann man wirklich darüber nachdenken, ob man die untersagen sollte. Bei Tempo 130 auf den Autobahnen kann man auch von einem Verbot sprechen. Aber da sind ja mittlerweile sogar der ADAC und die Mehrheit der Bevölkerung dafür.
Es wird viel über das Gendern gesprochen, viel über das Tempolimit. Beides ist nicht besonders relevant. Wer es schafft, auf den Autobahnen 130 zu fahren, den kann man nur beglückwünschen, weil er ein Stück
ohne Baustelle gefunden hat.
WEISS Sicher, das sind nicht die wichtigsten Themen. Wir müssen sehen, dass wir unseren Lebensraum erhalten, dass wir den Klimawandel stoppen und gleichzeitig die soziale Sicherheit erhalten. Gendern und Tempolimit sind Dinge, mit denen unsere politischen Gegner Ängste vor uns schüren wollen. Bei den Grünen ist das Gendern kein Wahlkampfthema. Viele Parteimitglieder gendern, manche nicht. Annalena Baerbock hat in ihrer langen Rede auf dem letzten Parteitag nicht einmal gegendert.
Warum sind Sie eigentlich 2018 bei den Grünen eingetreten?
WEISS Anlass waren die Worte Christian Lindners, wonach er lieber nicht regieren wolle als schlecht zu regieren. Da hat es mir gereicht, die Aussicht auf vier weitere Jahre „Groko“mit politischem Stillstand fand ich erschreckend. Und wir sehen ja jetzt, wie wenig erreicht worden ist. Im Schienennetz, das kaum ausgebaut ist, beim Pariser Klimaabkommen, das Deutschland bewusst verletzt.
Sie sagen, Sie fahren viel Fahrrad. Wofür nutzen Sie es dann?
WEISS Eigentlich für alles, soweit es streckentechnisch möglich ist. So fahre ich zum Beispiel immer mit dem Fahrrad zur Arbeit oder nutze bei vielen längeren Strecken mehrere Verkehrsmittel wie den Zug und das Fahrrad.
Und für die anderen Strecken?
WEISS Letztens musste ich zu einem Wahlkampfstand nach Sonsbeck. Das sind von uns aus 27 Kilometer mit dem Fahrrad und es hat geregnet. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen, ist so schlecht, da hat man keine Chance oder ist stundenlang unterwegs. Ich bin dann mit dem Auto gefahren. Im ländlichen Raum ist es noch oft schwierig. Da wollen wir durch Mobilitätsstationen verschiedene Verkehrsmittel miteinander verknüpfen. Im Kreis sind wir dabei, aber aus Berlin kommt wenig Unterstützung.
Für viele Menschen ist das Leben, wie es ist, auch komfortabel. Mit dem Auto einkaufen, mit dem Flieger nach Mallorca. Es ist auch etwas Positives, dass sich auch ärmere Menschen Urlaub leisten können oder ein eigenes Auto. Jetzt muss man in den Köpfen verankern, dass das alles nicht so unkritisch ist.
WEISS Ja. Um einmal Anton Hofreiter zu zitieren: „Die Betonplatten in den Köpfen der Menschen sind am dicksten. Und die zu durchbohren, ist die größte und schwierigste Herausforderung.“Jeder denkt natürlich, es ist doch schön, mit dem Auto zu fahren. Diesen Prozess zu initiieren, dass das nicht so schön für die Umwelt und das Klima ist, und übrigens auch nicht immer günstiger und schneller, das ist eine Herausforderung.
Aber wie macht man das?
WEISS Man könnte natürlich mit Verboten etwas erreichen, aber wesentlich besser ist es, wenn die Menschen etwas akzeptieren. Das kann nur durch Aufklärung und gute alternative Angebote geschehen. Ich versuche, die Menschen in meinem Umfeld zu erreichen. Es wäre gut, wenn die künftige Bundesregierung hier die richtigen Zeichen setzen würde.
Es ist davon auszugehen, dass die Grünen an dieser Bundesregierung beteiligt sind.
WEISS Das erhoffen wir uns natürlich für Deutschland und das Klima, aber eine Angst macht sich in mir breit.
Was ist Ihre Angst?
WEISS Eine Deutschland-koalition. Das wäre im Hinblick auf Umweltund Klimaschutz das Schlimmste, was uns passieren könnte.
Es sieht so aus, als würde es ein Dreier-bündnis, und wenn es mehr als ein Partner ist, muss man auch doppelt Kompromisse eingehen. Dann werden die Grünen ihre Vorstellungen nicht umsetzen können,
wie sie sich das wünschen. Werden die Grünen ihre Wähler enttäuschen müssen?
WEISS Ich glaube, dass jede Partei bei einer Dreier-koalition Kompromisse eingehen muss. Es wird keine Partei geben, die alle Ziele ihres Wahlprogramms umsetzen wird.
Fridays for Future kämpft dafür, dass beim Klimaschutz jetzt etwas passiert. Mit Olaf Scholz oder Armin Laschet im Kanzleramt würde es aber nicht jetzt, sondern vielleicht erst morgen. Das müssten die Grünen mit verkaufen, wenn sie nach der Wahl in der Regierung sein sollten.
WEISSWIR Grüne haben uns auf ein Wahlprogramm geeinigt, es wurde mit deutlich über 90 Prozent angenommen, also die Parteibasis steht dahinter. Sollten die Grünen mit anderen Parteien Koalitionsgespräche führen, kann ich mir beim Klimaschutz kaum Kompromisse vorstellen, eher in anderen Bereichen. Man kann vielleicht darüber diskutieren, ob der Ausstieg aus der Kohle 2028 oder 2030 kommt. Aber das Deutschland bei einer grünen Regierungsbeteiligung bei 2038 bleibt, halte ich für unvorstellbar.
Braucht der Kreis Wesel einen ICEHaltepunkt?
WEISS Aus meiner Sicht würde ich das nicht schlecht finden, dann bräuchte man nur bis Wesel fahren, um in den ICE zu steigen. Aber ob es wirklich nötig ist, dafür müsste man sich die Fahrgastzahlen anschauen. Wenn es nur ganz wenige sein sollten, würde es sich wahrscheinlich nicht lohnen.
Im Kreis Wesel gibt es keinen ICEPunkt. Für den zehntgrößten Kreis Deutschlands – von der Einwohnerzahl – ist das schon verrückt. Und Wesel könnte ein Knotenpunkt sein.
WEISS Deshalb würde ich es begrüßten, auch unterstützen. Es ist aber nicht das wichtigste Ziel im Kreis, was wir haben. Auf der rechtsrheinischen Seite sind wir zugtechnisch verwöhnt. Wir haben mehrere Linien. Schauen Sie mal auf die andere Rheinseite. Die RB31 ist eine viel größere Baustelle. Es ist doch kein Wunder, wenn dort viele Menschen sagen, dass sie nicht mit dem Zug fahren, weil sie sich nicht auf die RB31 verlassen können. Deshalb wäre ein ICE-HALT in Wesel schön, aber Priorität hätte im Kreis Wesel momentan die linke Niederrheinseite.
Wie lässt sich das Problem der
RB31 lösen?
WEISS Es gibt verschiedene Probleme. Die Strecke hat teilweise unbeschrankte Bahnübergänge, wo die Bahn langsamer fahren muss, es gibt veraltete Signalanlagen und Weichen, die Elektrifizierung ist auch nicht durchgehend. Die Strecke ist weitgehend einspurig. Das zu ändern, wäre ein Ziel, dann wäre auch eine höhere Taktung möglich.
Ein Ausbau der Strecke würde Geld kosten.
WEISS Aber es schafft Arbeitsplätze. Alle Aufträge beflügeln das Wirtschaftswachstum. Geld, das hineingesteckt wird, fließt über Steuereinnahmen teilweise auch wieder an den Staat zurück. Es ist eine Investition in die Zukunft und in die Verkehrswende. Was sollen wir sonst machen? Sollen wir später lieber die 10- bis 15-fachen Folgekosten des Klimawandels zahlen? Wir müssen auch an die zukünftigen Generationen denken.