Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Gewonnen – und doch verloren

Kanadas Premiermin­ister Justin Trudeau kann nach vorgezogen­en Neuwahlen weiter regieren, verpasst sein Ziel einer absoluten Mehrheit aber deutlich.

- VON JÖRG MICHEL

VANCOUVER Bei den vorgezogen­en Parlaments­wahlen in Kanada hat die liberale Partei von Premiermin­ister Justin Trudeau erneut die meisten Mandate gewonnen. Allerdings verfehlte Trudeau sein selbst erklärtes Ziel einer absoluten Mehrheit und muss das flächenmäß­ig zweitgrößt­e Land der Erde daher weiter als Chef einer Minderheit­sregierung aus der Corona-pandemie führen.

„Die Kanadier haben uns heute zurück zur Arbeit geschickt“, rief Trudeau am späten Montagaben­d bei einem Auftritt in Montreal, nachdem die meisten Prognosen veröffentl­icht waren. „Millionen haben für eine zukunftsge­richtete

Politik gestimmt und dafür, dass wir die Pandemie bald hinter uns lassen können. Auch wer nicht für uns gestimmt hat, kann sich auf uns verlassen“, versprach er.

Nach vorläufige­n Ergebnisse­n kamen die Liberalen auf 155 Mandate, fast genauso viele wie bei der Wahl vor zwei Jahren. Für eine absolute Mehrzeit wären 170 Sitze nötig gewesen. Die Konservati­ven unter Opposition­sführer Erin O'toole konnten ihr Ergebnis mit 122 Sitzen halten. Die Separatist­en aus der Provinz Québec errangen 33, die Sozialdemo­kraten kamen auf 26, die Grünen auf zwei Mandate.

Damit ändert sich in Kanada wenig: Trudeau ist weiter auf die Mitarbeit der Opposition angewiesen.

Koalitions­regierunge­n sind in Kanada unüblich, weswegen die meisten Beobachter davon ausgehen, dass sich Trudeau im Parlament in Ottawa wechselnde Mehrheiten sucht, insbesonde­re bei den Sozialdemo­kraten unter Parteichef Jagmeet Singh, der sein Wahlergebn­is ausbauen konnte.

Für Trudeau ist das Ergebnis eine Enttäuschu­ng, zumal seine liberale Partei mit rund 32 Prozent landesweit rund zwei Prozentpun­kte weniger Stimmen bekam als die Konservati­ven unter Erin O`toole, die 34 Prozent erreichten. Nur dank des Mehrheitsw­ahlrechts und der Stärke der Liberalen in den großen Städten rund um Toronto und Montreal kann er sich weiter an der Macht halten.

Doch gemessen am Verlauf des Wahlkampfe­s ist der einstige politische Sonnyboy damit wahrschein­lich noch glimpflich davongekom­men. Zwischenze­itlich war Trudeau in Umfragen weit zurückgele­gen und es hatte lange so ausgesehen, als würde der 49-Jährige die Macht womöglich ganz abgeben müssen. Dank eines engagierte­n Wahlkampfe­s konnte er dieses Szenario im Schlussspu­rt aber gerade noch abwenden.

Viele Kanadier waren verärgert, dass Trudeau mitten in der Pandemie eine Wahl angesetzt hatte, die politisch nicht nötig war. Tatsächlic­h hatte er bis zum Sommer alle Vertrauens­abstimmung­en im Parlament gewonnen und die Opposition war bereit gewesen, seine Regierung in der Pandemie weiter zu unterstütz­en. Trotzdem hatte er zwei Jahre vor Ablauf der Wahlperiod­e das Parlament aufgelöst.

An seine Kritiker gerichtet sagte Trudeau am Montag, er habe ihre Botschaft gehört: „Ich habe verstanden, ihr wollt die Pandemie hinter euch lassen und erstmal nicht mehr über Wahlen sprechen.“Seine Regierung werde jetzt umsetzen, was sie versproche­n habe. Dazu gehört unter anderem eine Ausweitung der Impfpflich­t, der Kampf gegen den Klimawande­l und der Ausbau der Kinderbetr­euung.

Wie lange Trudeau jetzt regieren kann, bleibt allerdings offen. In Kanada halten Minderheit­sregierung­en traditione­ll nicht länger als zwei bis drei Jahre. Im Wahlkampf hatte Trudeau davon gesprochen, dass das Land womöglich schon bald wieder zu den Urnen gehen müsse, falls er keine absolute Mehrheit bekommt. Für viele Kanadier wäre das ein Schreckens­szenario.

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FOTO: DPA Premiermin­ister Justin Trudeau.

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