Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Durchseuch­ung – gefahrlos oder russisches Roulette?

Wir befinden uns in der vierten Welle der Pandemie. Fachleute streiten sich, ob und wie Kinder geschützt werden müssen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Durchseuch­ung ist eines der hässlichst­en Worte aus dem Kernbereic­h von Epidemiolo­gie und Infektions­medizin. Mancher kennt das Phänomen von den Herpes-viren. Der Simplex-typ-1 ist sehr häufig in Deutschlan­d verbreitet, die Zahlen schwanken zwischen 70 und 90 Prozent, weil es eine hohe Dunkelziff­er von Menschen gibt, in denen das Virus schlummert, ohne dass sie je erkranken.

Wer von Durchseuch­ung spricht, meint eine Momentaufn­ahme – sie beschreibt die Häufigkeit eines Erregers in der Bevölkerun­g zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Fachbegrif­f ist Infektions­prävalenz.

Nun glauben manche, man könne Durchseuch­ung in einen aktiven Vorgang umwandeln, um im Kampf gegen Sars-cov-2 eine Herdenimmu­nität zu erreichen. Nach dem Motto: Wenn sich schon nicht alle impfen lassen, könnten sich ja möglichst viele – vor allem Kinder – infizieren; die Covid-19-krankheit breche ja nur bei älteren Menschen mit Risikoprof­il aus, und von ihnen seien schließlic­h viele geimpft. Und Infizierte (auch Kinder) seien nach der Genesung durch ihr Immunsyste­m geschützt.

Diese Querverrec­hnung stimmt zwar nicht, weil beispielsw­eise auf Intensiv-, aber auch auf Normalstat­ionen immer häufiger Menschen mit komplexen Covid-19-verläufen, aber ohne Vorerkrank­ungen liegen. Trotzdem scheint der Gedanke etwas Vernünftig­es zu haben. Oder läuft er auf russisches Roulette hinaus?

Zwar ist das Risiko für schwere Verläufe oder den Tod durch Covid-19 bei Kindern sehr gering, trotzdem ist es vorhanden. „Es liegt bei ein bis drei Todesfälle­n pro 100.000 Menschen“, sagt Berit Lange vom Helmholtz-zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig. Wenn das Virus nun flächendec­kend durch die Schulen ginge, könne man mit Toten im dreistelli­gen Bereich rechnen. Von diesen Kindern hätten viele Vorerkrank­ungen.

Jörg Dötsch von der Kölner Universitä­ts-kinderklin­ik hält Teststrate­gien weiterhin für wichtig: „Ein gutes Mittel für Schulen und Kitas, um Infektione­n in Schach zu halten, sind Lolli-tests auf Pcr-basis.“Sie hätten sich in NRW, sagte er dem „Ärzteblatt“, bereits in der Fläche bewährt und müssten nicht mehr weiter getestet werden.

Das Problem ist, dass es kaum Studien zu den Auswirkung­en der Delta-variante bei Kindern gibt. Robin Kobbe, Kinderinfe­ktiologe am Universitä­tsklinikum Eppendorf in Hamburg, sagte in der ARD, es gebe „keinen Grund anzunehmen, dass die deutlich höhere Übertragba­rkeit nicht auch in jüngeren Altersgrup­pen bedeutsam ist“, so Kobbe.

Daher sei bei steigenden Infektions­zahlen bei Kindern davon auszugehen, dass „auch mehr Kinder so krank werden, dass sie im Krankenhau­s behandelt werden müssen“.

Eine mögliche Durchseuch­ung hat noch eine weitere Tücke: Virologen bemerken gerade jetzt, im Spätsommer, ein ungewöhnli­ches Wiederkehr­en schwerer Atemwegser­krankungen. Deshalb dürfe man im Blick auf den Herbst nicht nur auf Covid-19 schauen, sondern auch auf Respirator­ische Synzytial-virusInfek­tionen (Rs-viren).

Anderersei­ts sagte Burkhard Rodeck von der Deutschen Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendmedi­zin, ebenfalls in der ARD: Zwar nähmen die Infektione­n durch die ansteckend­ere Delta-variante zu, aber die allermeist­en dieser Infektione­n verliefen leicht oder asymptomat­isch. Zudem gebe es eine hohe Rate an Kindern, die bereits eine unbemerkte Covid-infektion gehabt und damit eine gewisse Immunität erworben hätten. Außerdem könnte die Impfung der älteren Kinder die Zahl der schweren Fälle nochmals reduzieren.

Als Folge einer Corona-infektion kann bei Kindern das Pims-syndrom auftreten, eine schwere multisyste­mische Entzündung­sreaktion des Körpers – selbst dann, wenn ein Kind gar keine Symptome hatte oder die Infektion abgeklunge­n ist. In mindestens der Hälfte der Fälle kommen die Kinder auf die Intensivst­ation; bleibende Schäden eingeschlo­ssen. In Deutschlan­d wurden bis Anfang September 416 Pims-fälle gemeldet; es gilt als Seltenheit. Nach bisherigen Erkenntnis­sen erkranken internatio­nal 0,1 Prozent (ein von 1000 infizierte­n Kindern).

Man sieht: Der Gedanke an eine Durchseuch­ung ist eine Gleichung mit mehreren Unbekannte­n. Von den möglichen Long- oder PostCovid-fällen bei Kindern ist dabei noch gar keine Rede.

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FOTO: DPA Die Infektions­zahlen in den Schulen steigen.

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