Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Im Namen des Fortschritts
ANALYSE Nach 16 langen Jahren der Merkel-regierungszeit gerät in Berlin politisch etwas in Bewegung. Grüne und FDP scheinen entschlossen, mehr als eine reine Vernunftehe eingehen zu wollen.
Spannende Zeiten – so endet das Zitat unter dem denkwürdigen Selfie der vier Vor-sondierer von FDP und Grünen, das sie nur zwei Tage nach der Wahl einem überraschten Publikum über Instagram präsentierten. Unterzeichnet haben es die drei Parteivorsitzenden Annalena Baerbock, Robert Habeck (beide Grüne) und Christian Lindner (FDP) sowie dessen Generalsekretär Volker Wissing, der lange Zeit Minister in einer Ampel-koalition in Rheinland-pfalz war. Es liegt Aufbruch in der Berliner Luft, viel ist die Rede von einem gemeinsamen Projekt, von einer „progressiven Regierung“(Baerbock) und einem „fortschrittlichen
Zentrum“(Lindner).
Beobachter sehen im Vorstoß der beiden Parteien schon mehr als nur die Vorsondierungen für ein Sachbündnis. Ähnlich wie 1969, als die sozial-liberale Koalition den Muff der Adenauer-jahre abstreifen wollte, oder 1998, als die erste rot-grüne Bundesregierung sich als Projekt der progressiven Kräfte sah, suchen Grüne und Liberale nach einer übergeordneten Idee, nach einer „übergreifenden Vision“, wie es der bekannte Psychologe Stephan Grünewald im Deutschlandfunk ausdrückte.
Noch halten sich die Partei-oberen bedeckt, was konkrete Ergebnisse betrifft, auch die Richtung der neuen Gemeinsamkeit wollen sie noch nicht festlegen. Doch die Vordenker in beiden Lagern gehen schon weiter. „Wir erleben gerade eine Zäsur“, meint Sabine Leutheusser-schnarrenberger, die frühere Bundesjustizministerin und jetzige Vize-vorsitzende der Fdp-nahen Friedrich-naumann-stiftung. „Die kleineren Parteien bestimmen plötzlich, wo es langgeht. Das wirkt sich auch auf die Atmosphäre zwischen Liberalen und Grünen aus. Sie ist ausgesprochen gut.“Natürlich wirkt das Schreckgespenst der großen Koalition nach, die Verwundung des Chef-liberalen Lindner im Jahr 2017, als er sich plötzlich als Anhängsel einer schwarz-grünen Koalition sah und ausstieg. Die gleiche Augenhöhe ist jetzt das Gebot der Stunde – Liberale und Grüne machen es vor.
Trotzdem dürfte es schwierig werden. Die einen wollen Steuern erhöhen, die anderen senken – auch für die Besserverdienenden. Schulden sind für die Grünen in Ordnung, wenn sie in ökologische Investitionen fließen, die FDP will die Rückkehr der Schuldenbremse. Und auch kulturell liegen die beiden meilenweit auseinander. Die FDP gilt bei vielen GrünenAnhängern als Partei des Geldes, des Egoismus und der Interessenvertretung für die Reichen. Die Öko-partei steht in den Augen vieler Liberaler für Verbote, Einschnitte in die private Lebensführung, Gängelung und Missionseifer, die Industrie und Individualverkehr als überflüssig ansieht. Der Grünen-vordenker Ralf Fücks, Geschäftsführer des ökologischen Zentrums Liberale Moderne, sieht darin ein Zerrbild. „Die Grünen haben auch eine libertäre Tradition. Für sie ist individuelle Freiheit ein hohes Gut“, meint der frühere Grünen-politiker, der sich selbst eher als Öko-liberalen sieht. Umgekehrt ist für Leutheusser-schnarrenberger die soziale Einbettung der FDP wichtig. Das kalte Image als reine Wirtschaftspartei lehnt die frühere Bundesministerin ab. Sie sieht gerade im humanitären Bereich viele Überschneidungen der grünen und liberalen Ansichten. „Beide Parteien setzen sich für Integration, Humanität, Hilfe für Flüchtlinge, die Freiheit im Rechtsstaat und das Prinzip‚leben und leben lassen` ein.“
Freiheit wäre auf jeden Fall die wichtigste Klammer in der neuen Konstellation – Individualrechte, Rechtsstaat
Grüne Für die Grünen, die sich als erste Partei neben den drei Gründungsparteien der Bundesrepublik 1980 konstituierten, sind vier Grundprinzipien wichtig: Ökologie, Basisdemokratie, Pazifismus und Feminismus. Am Anfang waren die Grünen politische Außenseiter, später arrangierten sie sich mit dem System der Bundesrepublik so gut, dass sie inzwischen zu den stabilisierenden Faktoren unserer Demokratie gezählt werden. Der fundamentale Flügel hat inzwischen die Partei verlassen. Jetzt gibt es einen klassischen linken und einen pragmatischen Flügel. Im Gegensatz zur SPD oder der Linkspartei sind die Grünen nicht dogmatisch aus der Idee des Sozialismus entstanden. lichkeit, Abwehr eines übermächtigen Staatsapparats. Und wenn auch viele Grüne die Rolle des Staates in Umweltfragen erweitern möchten, wehren sich andere gegen die Linie der SPD, die Wirtschaft staatlich steuern zu wollen, und vor allem gegen allzu große Kompetenzen für die Polizei, wie sie die Union propagiert. Auch hier stimmen Liberale und Grüne überein. Schließlich wehrten sich die Bürgerinitiativen, aus denen die Öko-partei hervorging, gegen die atomare Staatswirtschaft, gegen öffentliche Infrastrukturprojekte wie Flughäfen, Autobahnen oder Flussvertiefungen.
Und noch etwas verbindet die beiden. FDP und Grüne finden großen Zuspruch im akademischen Milieu und vor allem bei jungen Leuten. 41 Prozent der Wahlberechtigten zwischen 18 und 29 Jahren stimmten für eine der beiden Richtungen (Grüne: 22 Prozent, FDP: 19 Prozent). Die beiden ehemaligen Volksparteien Union (elf) und SPD (17) kamen gerade mal auf 28 Prozent. Bei Schülern, die freilich noch nicht wählen dürfen, fällt der Unterschied bisweilen noch stärker aus. So führte das Münchner Käthe-kollwitz-gymnasium Mitte September eine Testwahl der Jahrgangsstufen 8 bis 12 durch. Dort errangen die Grünen 42 und die FDP 18,5 Prozent. SPD (12,1) und CSU (6,8) landeten auf den hinteren Plätzen. Das ist nicht repräsentativ, aber auch nicht unbedingt ein krasser Ausreißer.
Und bei jungen Leuten könnten Liberale und Grüne sogar wirtschaftlich zusammenfinden. Denn wer bei Start-upUnternehmen arbeitet oder sie leitet, neigt auch den beiden politischen Strömungen zu. „Hürden für Start-ups abzubauen, liegt sowohl im Interesse der FDP wie der Grünen. Gerade bei jungen unternehmerischen und aktiven Kräften sind beide Parteien stark“, sagt die Ex-ministerin Leutheusser-schnarrenberger. Nur bei der Besteuerung der aufstrebenden Akademiker und Akademikerinnen müssten sich die beiden dann noch einigen.
Grüne und Liberale suchen nach einer übergeordneten Idee, einer übergreifenden Vision