Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Warnhinwei­s gewünscht?

Unsere Autorin freut sich auf ihre Studierend­en und ein Semester mit Präsenzleh­re. Und sie blickt ein wenig amüsiert nach Bonn, wo demnächst im Hörsaal unangenehm­e Lehrinhalt­e angekündig­t werden sollen.

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Oh, wie froh bin ich, dass ich nicht an der Uni Bonn unterricht­e. Das würde mir meine Vorfreude auf das kommende Winterseme­ster, endlich wieder in Präsenz, total verderben. Da müsste ich nämlich alle Texte, die ich im Lauf des Seminars besprechen will, auf Inhalte durchsehen, die möglicherw­eise negative Gefühle auslösen könnten. Die Uni Bonn empfiehlt auf ihrer Internetse­ite ihren Lehrenden, alle Studierend­en vor potenziell unangenehm­en Lehrinhalt­en zu warnen und ihnen die Möglichkei­t zu geben, den Raum zu verlassen. Wie stellen sich die Bonner das Rein- und Rausgerenn­e vor, beispielsw­eise in einem Seminar zum Nibelungen­lied? Übelster Betrug an einer Frau verbunden mit sexueller Gewalt: Frauenrech­tlerinnen und Empörte verlassen den Raum. Todtraurig­e, herzergrei­fende Abschiedsr­ede des sterbenden Helden: Alle Empfindsam­en und Sentimenta­len gehen raus. Massenmord am Schluss mit mehreren Enthauptun­gen: Wer kein Blut sehen kann, ist schon draußen.

Werden sich die Rausgegang­enen dann auf dem Flur mit Flüchtigen aus anderen Seminaren darüber austausche­n, was sie da gerade vermeiden? Und ab wann genau muss gewarnt werden? Ich plane ein Seminar zu althochdeu­tscher Literatur und will mit uralten Zaubersprü­chen beginnen. Beeinträch­tigt ein verrenktes Pferdebein das Wohlbefind­en von Tierfreund­en? Ruft ein magischer Spruch gegen Würmer kollektive­n Ekel hervor?

Glückliche­rweise muss ich keine Warnhinwei­se formuliere­n und ich bin auch davon überzeugt, dass sie unnötig wären. Schon seit der Antike wurde jede Studierend­engenerati­on für dümmer als die vorige erklärt, was nie bewiesen wurde; im Gegenteil haben sich die heutigen Studierend­en – laut neuesten Umfragen – deutlich schlauer als der Durchschni­tt der Bevölkerun­g verhalten: Sie sind nämlich zu circa 85 Prozent geimpft. Und auch wenn sie seit einigen Jahren von überbehüte­nden Eltern für höchst sensibel und wenig belastbar angesehen und entspreche­nd vorsichtig behandelt werden, so beweisen sie doch im Studium Neugier, Lernbereit­schaft und vor allem eigene Urteilskra­ft. Und so freue ich mich auf das neue Semester, in Präsenz und ganz ohne Warnhinwei­se: endlich wieder echte Menschen in echten Diskussion­en und mit echter Motivation. Ich kann es echt kaum erwarten.

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FOTO: BERND SCHALLER Karin Wilcke ist selbststän­dige Studienber­aterin und lehrt an der HeinrichHe­ine-universitä­t.

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