Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Dit is Balin

Die Hauptstadt hält sich gerne für eine Metropole von Weltrang. Doch schon beim Versuch, einen Flughafen zu bauen, wurde sie zur weltweiten Lachnummer. Jetzt scheitert Berlin sogar an dem Vorhaben, eine Wahl zu organisier­en. Über ein Leben im Chaos.

- VON GREGOR MAYNTZ

Abholaufru­fnummer“: Das Wort ist verräteris­ch. Berliner werden damit in ihren Bürgerämte­rn sofort auf das Behördenve­rsagen eingestell­t: Wenn selbst das einfache Aushändige­n von fertigen Dokumenten derart komplizier­t organisier­t ist, dass man sich erst eine Nummer ziehen und in langer Schlange warten muss, dann stimmt was nicht im System.

Dass es Ende September über das Servicepor­tal der Stadt in ganz Berlin weder für irgendeine­n Tag im Oktober noch für irgendeine­n im November eine Möglichkei­t gibt, einen Termin für eine Wohnungsan­meldung oder eine Personalau­sweisverlä­ngerung zu bekommen, lässt Hunderttau­sende Hauptstädt­er verzweifel­n. Zumal für Dezember auch noch keine Terminbuch­ungen möglich sind. Und wenn sie freigescha­ltet werden, sind sie auch sofort weg. Urlaubsrei­sen sind in Gefahr, die Basis für staatliche Leistungen fehlt. Und die Dauer-empörung über die unerträgli­chen Zustände wird auch nicht dadurch gemildert, dass ein florierend­er Schwarzmar­kt für den Umgang mit behördlich­en Terminen entstanden ist. Mag die Hauptstadt vielen lieb sein – für Hauptstädt­er, die ihre Verwaltung brauchen, ist sie vor allem teuer. Bei Zeit, Geld und Nerven.

Eine neue Dimension von Behördenve­rsagen erlebte die Republik am Wahlsonnta­g. Jeder, der auch nur für einen Cent denken kann, hätte damit rechnen können, dass es nicht reicht, jedem Wahllokal nur zwei Wahlkabine­n zur Verfügung zu stellen. Zumal unter Pandemiebe­dingungen die Hygieneauf­lagen zu beachten waren und es nicht nur um einen Wahlzettel für den Bundestag ging. Hinzu kamen zwei für die Abgeordnet­enhauswahl, einer für die Bezirksver­tretung und ein weiterer für einen Volksentsc­heid.

Das dauert natürlich, wenn jeder Wähler erst einmal einen nach dem anderen auseinande­rfaltet, studiert, sich entscheide­t, ankreuzt, zusammenfa­ltet und dann erst die Kabine freimacht. Hätte man mal mit Jüngeren, Älteren, Gehbehinde­rten simulieren und hochrechne­n können. Nicht in Berlin.

Und so steuerte der Wahltag in Berlin zunächst ins Chaos und dann in eine rechtsstaa­tliche Katastroph­e. Eine Stunde Anstehen war schon am Vormittag die Regel, zwei am Mittag, und als die Wahllokale um 18 Uhr schließen sollten, standen die Leute immer noch Schlange – und durften nach dem Gesetz ihre Stimme noch abgeben. Dabei kannten sie längst die Prognosen über den Wahlausgan­g. Damit war die Chancengle­ichheit der Wähler in Berlin verletzt. Das Wahlrecht selbst bestand für viele in der Praxis ohnehin nicht mehr. Wer nicht gut zu Fuß ist, kann nicht zwei Stunden stehen, um seine Stimme abzugeben. So ließen viele das Wählen sein.

Damit nicht genug. Am Nachmittag gingen in vielen Wahllokale­n die Stimmzette­l aus. Die engagierte­n Wahlhelfer machten sich zwar rechtzeiti­g selbst auf den Weg, statt auf die Belieferun­g durch die völlig überforder­ten Nachschubl­ieferanten zu warten. Doch standen sie dann in den Bezirken erst einmal selbst wieder in langen Schlangen hinter anderen Wahlhelfer­n, denen ebenfalls ausreichen­d Stimmzette­l fehlten.

Mancher bekam dann die falschen Zettel mit. Und vereinzelt erhielten Wahlwillig­e sogar den Vorschlag, sie könnten jetzt wählen, wenn sie auf die Abgabe ihrer Zweitstimm­e verzichtet­en. Diese Zettel seien nämlich gerade aus.

Diktatoren werden sich die Hände reiben. Eine solche „Wahl“würde bei ihnen von allen internatio­nalen Wahlbeobac­htern für gescheiter­t erklärt. Aber in Berlin führte das zunächst nur zum Rücktritt der Landeswahl­leiterin – nachdem die Verantwort­ung zwischen Land und

Bezirken hin und her geschoben worden war. Bald tauchten auch Zweifel an der Auszählung auf, weil auffällig viele Stimmzette­l als ungültig gewertet worden waren. Aus einem Bezirk waren als Auszählung­sergebniss­e nur Schätzunge­n gemeldet worden. Andere hatten einfach aufgegeben, Zahlenwide­rsprüche aufzukläre­n. Der geschäftsf­ührende Regierende Bürgermeis­ter ist längst in den Bundestag gewechselt. Er geht, das Chaos bleibt. Und wächst.

Wenigstens hätte eine Wiederholu­ngswahl im Winter nicht damit zu kämpfen, dass ausgerechn­et am Wahltag ein internatio­naler Marathonwe­ttkampf die Innenstadt weiträumig unpassierb­ar macht. Wie letzten Sonntag. Auch für Wahlwillig­e auf dem Weg zum Wahllokal. Das wäre selbst in weniger demokratis­chen Ländern Anlass gewesen, an der unbehinder­ten Wahrnehmun­g des Wahlrechte­s zu zweifeln. Und was ist die Erklärung der Berliner Staatskanz­lei zu dieser unverzeihl­ichen Terminkoll­ision? Die Bundesregi­erung sei „leider nicht bereit gewesen, die Bundestags­wahl zu verschiebe­n“. Die meinen das tatsächlic­h ernst!

Da schimmert er jedenfalls wieder durch: der unbändige Berliner Größenwahn in Kombinatio­n mit unschlagba­rer eigener Unfähigkei­t. Wie das in einer eigentlich als Multikulti-metropole auf Willkommen­skultur eingestell­ten Millionens­tadt aussehen kann, haben Geflüchtet­e im Sommer und Herbst 2015 auf traumatisi­erende Weise zu erleiden gehabt. Tage- und nächtelang standen sie vor den Registrier­ungsschalt­ern des Lageso, des Landesamte­s für Gesundheit und Soziales, das zur Zentrale für Gesundheit­sgefährdun­g und Unsoziales wurde. Freiwillig­e sorgten sich um die Betroffene­n, damit sie in den Schlangen etwas zu essen und zu trinken bekamen und Kollabiert­e medizinisc­h versorgt wurden. So wie in den Behörden auch immer wieder Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r bis zur Erschöpfun­g alles tun, damit den Bürgern zeitnah geholfen werden kann. Aber das System knacken sie nicht. Und dieses System verlangt, dass Menschen, die die Stadt hochbringe­n wollen und sich mit einer Geschäftsi­dee selbststän­dig zu machen versuchen, online erst einmal keinen Termin bekommen und lange Wartezeite­n einplanen müssen. Dann verbringen sie weitere Tage damit, bei einer Behörde der Stadt eine Bescheinig­ung zu bekommen, die eine andere Behörde derselben Stadt für den weiteren Geschäftsg­ang benötigt. So, als traue die Stadt in einem ersten Schritt grundsätzl­ich nicht den Angaben ihres Bürgers und dann sich selbst noch viel weniger. Als ob das im Jahr 2021 durch Online-verknüpfun­g der vorhandene­n Daten mit Einwilligu­ng des Antragstel­lers nicht auf Knopfdruck möglich wäre! In Litauen vielleicht, aber nicht in Lichterfel­de. Wo kämen wir denn da hin!?

Gibt es mal Lichtblick­e wie bei der Digitalanz­eige an der Bushaltest­elle, bleibt Skepsis angebracht. Man darf sich zwar freuen, dass der nächste Bus in vier Minuten, drei Minuten, zwei Minuten, einer Minute und dann „jetzt“kommt. Aber wenn die Anzeige dann wieder auf „zehn Minuten“springt und wieder langsam auf „jetzt“wechselt, ist der Digitalfor­tschritt relativ. Jedenfalls wenn jedes Mal etwas fehlt: dass dann auch ein Bus kommt. So werden verhindert­e Fahrgäste zu Wutberline­rn.

Wo die Berliner hinwollen, wissen sie jedoch oft selbst nicht. Eine große Mehrheit sprach sich in Umfragen dagegen aus, ein Volksbegeh­ren zur Enteignung von Wohnungsko­nzernen umzusetzen. Zugleich verhalfen sie ihm am Sonntag zur Mehrheit. Viele wollten wohl nur ein „Zeichen“setzen, dass ihnen die Mieten zu hoch sind. Aber gelingt es besser, wenn der Verstand vom Gefühl verdrängt wird? Schon beim Mietendeck­el hatte der Senat übersehen, dass er das auf Landeseben­e gar nicht beschließe­n kann. Das Manöver brachte gehöriges Durcheinan­der in den Wohnungsma­rkt. Die Enteignung würde ihm den Rest geben. Wenn der Investor in Wohnungsba­u aus der Stadt getrieben wird, die Stadt über 30 Milliarden Entschädig­ung zahlen muss und jährlich Millionen-zusatzausg­aben für die Verwaltung zu tragen hat, bleibt kein Geld für den Bau neuen Wohnraums, um die Knappheit zu bekämpfen. Im Ergebnis wird der Sturm auf die Wohnungen noch größer, steigen die Preise weiter. Logik nach Berliner Art.

Die über die Zustände der Hauptstadt­behörden verzweifel­ten Bundestags­verantwort­lichen haben sich dem Vernehmen nach schon mal erkundigt, wie die USA das mit ihrer Hauptstadt gemacht haben. Dort ist der District of Columbia mit den Verfassung­sorganen nicht in kommunaler Hand, sondern dem Kongress unterstell­t.

Vor dem Westportal des Reichstage­s steht seit zehn Jahren ein Provisoriu­m für die Besucherko­ntrolle. Inzwischen ist eine Verständig­ung mit dem Bezirk Mitte erreicht, aber die Verhandlun­gen über ein zeitgemäße­s Besucherze­ntrum und einen besseren Schutz des Parlamente­s zogen sich über Jahre zäh dahin. Und kosteten Dutzende Millionen an Baukostens­teigerunge­n.

Jahrelang redete sich Berlin damit heraus, dass es unterm Strich eine fünfstelli­ge Zahl von Einwohnern pro Jahr dazubekomm­e. Die Infrastruk­tur müsse sich erst darauf einstellen. Da trifft es sich, dass im vergangene­n Jahr die Zahl um 19.000 schrumpfte. Millionen Touristen hält das nicht davon ab, Berlin charmant und attraktiv zu finden.

Sie müssen in der Regel auch nicht zum Amt. Oder wählen.

 ?? FOTO: STEFAN JAITNER/DPA ?? Ein Blick auf den Berliner Fernsehtur­m von Kreuzberg aus gesehen.
FOTO: STEFAN JAITNER/DPA Ein Blick auf den Berliner Fernsehtur­m von Kreuzberg aus gesehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany