Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Von kulturelle­n Hürden beim Arztbesuch

Immer wieder kommt es zu Missverstä­ndnissen zwischen Ärzten und Patienten mit Migrations­hintergrun­d. Auch dann, wenn alle Beteiligte­n ihr Bestes geben, ihre Anliegen begreiflic­h zu machen. Ein Thema auch in Dinslaken.

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DINSLAKEN( szf) Ein Migrations­hintergrun­d wirkt sich auf viele Aspekte des Lebens aus. Auch und nicht zuletzt auf die Gesundheit­sversorgun­g. Besonders durch die CoronaPand­emie sei die Thematik wieder in den Fokus gerückt, stellt Senol Keser fest, der Ingetratio­nsbeauftra­gte der Stadt Dinslaken. So gebe es Sprachbarr­ieren in Praxen und Krankenhäu­sern, aber auch unterschie­dliche Vorstellun­gen von Gesundheit oder Prävention.

„Auch wenn es mittlerwei­le durch digitale Übersetzer eine Möglichkei­t gibt, Sprachbarr­ieren zu überwinden, entstehen in der Praxis trotzdem Probleme“, so Keser. Das zeigte sich zum Beispiel bei einer Fortbildun­gsveransta­ltung, die die Stadt im Sommer gemeinsam mit dem Evangelisc­hen Klinikum Niederrhei­n auf die Beine gestellt hat. Es ging um Interkultu­relle Kompetenz in der Medizin und das Verständni­s von Krankheite­n.

Als Referent war Kemal Gün in Dinslaken, Psychother­apeut und Integratio­nsbeauftra­gter der LVR-KLInik in Köln. Eines seiner Themen waren die so genannten„organchiff­ren“. Dahinter verbergen sich echte Fallstrick­e im Kontakt zwischen Menschen, die unterschie­dliche kulturelle und sprachlich­e Hintergrün­de haben. „Die Anamnese ist für den Arzt und für die Ärztin das Maßgeblich­e, um anschließe­nd die Diagnose zu stellen“, erklärt Kemal Gün. „Wenn es aber schon bei der Anamnese eine falsche Interpreta­tion oder Annahme gibt, dann wird auch höchstwahr­scheinlich die Diagnose falsch werden, was wiederum nicht zur Heilung und zur Lösung des medizinisc­hen Problems beiträgt.“

Kulturverg­leichende Studien zeigten, dass es unterschie­dliche Wahrnehmun­gen und Beschreibu­ngen von Krankheite­n, Schmerzen, Leiden et cetera gibt. So würden vor allem im muslimisch­en Sprachraum und insbesonde­re im Türkischen Leiden und Schmerzen oft in Metaphern ausgedrück­t oder bildhaft dargestell­t.

„Sagt zum Beispiel ein Patient auf Türkisch ,Kafayi üsüttüm', dann würde das eins zu eins übersetzt heißen, dass er den Kopf erkältet hat.

Das hat allerdings rein gar nichts mit einer Erkältung zu tun. Es bedeutet, dass es dem Patienten psychisch gar nicht gut geht und er kurz vor dem Durchdrehe­n ist“, so Gün.

„Oder die Aussage ,Yüregim yaniyor'. Übersetzen würde man das mit ,Mein Herz brennt'. Dabei bringt der Patient oder die Patientin Trauer, Trennungss­chmerz oder Liebeskumm­er zum Ausdruck“, erklärt er weiter. „In der bildhaften und metaphoris­chen Beschreibu­ng spielen vor allem die Organe Leber, Lunge, Herz oder der Kopf eine große Rolle.“In der Kommunikat­ion sei es enorm wichtig, Fragen zu stellen und sich als Arzt oder Ärztin zu vergewisse­rn, ob man es nun gerade im aktuellen Fall und Kontext mit einer metaphoris­chen Beschreibu­ng eines Problems zu tun hat oder nicht. „Das setzt aber voraus, dass man sich als medizinisc­hes Personal mit diesen interkultu­rellen Themen schon mal auseinande­rgesetzt hat und dafür sensibel ist.“

Zwar hätten viele Krankenhäu­ser und Arztpraxen interkultu­relles Personal, das im Notfall übersetzen könne. Aber die Kenntnis der kulturelle­n oder auch religiösen Hintergrün­de sei eben nicht immer da.

Dass das tatsächlic­h immer wieder zu Problemen führt, erlebe er in seiner persönlich­en und berufliche­n Erfahrung, betont Dinslakens Integratio­nsbeauftra­gter Senol Keser. Wobei man nicht in jedes Missverstä­ndnis grundlegen­de Unterschie­de hineininte­rpretieren müsse: „Alles auf die Kultur zu schieben, ist auch nicht richtig“, sagt er. Aber: „Das Problem gibt es definitiv.“

Und es tritt seiner Erfahrung nach gerade in diesen Jahren in Erscheinun­g. Denn jetzt kämen die Menschen der ersten und zweiten Einwandere­r-generation in ein Alter, in dem sie häufiger unter gesundheit­lichen Problemen leiden. Und gerade diese Menschen seien es, die häufig schlecht Deutsch könnten. Ein Problem, das sich für sie nicht mehr durch Sprachkurs­e lösen lasse, geschweige denn durch die simple Forderung, dass sie halt Deutsch hätten lernen sollen: „Da ist einfach politisch viel versäumt worden“, so Kaser. „Ich plädiere dafür, dass es für Krankenhäu­ser einen Sprachmitt­lerpool geben sollte. Ich weiß, das wäre nicht ganz kostengüns­tig. Aber sinnvoll wäre das auf jeden Fall.“Ansonsten sei allein das Wissen darum, dass es zu kulturell bedingten Missverstä­ndnissen kommen kann, ein großer Schritt.

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FOTO: MASCHA BRICHTA/DPA Im Patienteng­espräch kommt es oft auf Unter- und Zwischentö­ne an. Wenn Metaphern falsch gedeutet werden, die ein kranker Mensch verwendet, dann kann es mit der Anamnese schwierig werden.

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