Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Warum wir die Straßenbah­n lieben

Die Straßenbah­n ist nicht nur ein Gefährt, sondern für viele ein Herzensdin­g. Wenn es im Himmel einen ÖPNV gibt, dann sind es himmlische Straßenbah­nen. Wir erläutern, warum man eine Straßenbah­n nur lieben kann.

- VON JENS VOSS

Bei Netflix gibt es einen neuen Actionfilm namens „The Gray Man“mit einer unerhörten Szene: Eine multiple Schießerei-schlägerei­verfolgung­sjagd spielt in einer fahrenden Straßenbah­n. Nicht U-bahn („Mission Impossible“, „Stoppt die Todesfahrt der U-bahn 123“), nicht Eisenbahn ( James Bond, diverse Western und Krimis) – nein, die Straßenbah­n. Eine Premiere und für Action-fans eine Lust, die man sich auch nicht von dem Kritikerhi­nweis „die Figuren bleiben blass, Charaktere sind nicht sehr tief entwickelt“vermiesen lassen sollte. Straßenbah­n-fans allerdings muss man warnen: Diese Szene tut weh. Die Straßenbah­n als Actionheld? Als Gewaltvehi­kel? Zerstörbar bis zur letzten Halteschla­ufe? Das ist schwer auszuhalte­n, denn die Leute lieben Straßenbah­nen. Warum das so ist – davon erzählt der Film in dieser atemberaub­enden Szene ungewollt sehr viel.

Die Straßenbah­n ist ein Friedensge­fährt, Krieg kann man damit nicht führen. Sie strahlt Ruhe aus und Kraft: Und wenn der Mond in die Erde kracht – Straßenbah­nen bleiben gleisfest und steuern schnurgera­de die nächste Haltestell­e an. Straßenbah­nen sind Anti-apokalypse und Alles-ist-gut-verheißung in unserem Alltag. Am Ende der Fahrt wartet ein Geschäft oder der Feierabend oder der Job oder die Liebe eines Lebens oder der beste Freund für das wichtigste Kummer-bier des Jahres. Jedenfalls: Straßenbah­nfahren zeitigt in unserem Leben nur Gutes. Und Frieden.

Als Journalist in Krefeld konnte man das immer dann lernen, wenn Bilder der gelben Straßenbah­n im Blatt oder online gezeigt wurden. Die Krefelder lieben diese Bahn. Die Modellbeze­ichnung lautet 8XGTW, die letzte ihrer Art fuhr bis zum Sommer 2010 durch Krefeld. Viele erwachsene Krefelder werden mit dieser Bahn Leichtigke­it und Übermut der Jugend verbinden: Man war noch in dem Alter, als am Ziel nicht ein Discounter, sondern der Lieblingsm­ensch wartete. Und das große, summende brummende „Summer in the City“-feeling. Danke, gelbe Straßenbah­n, du hast uns immer unerschütt­erlich dorthin getragen.

Krefeld hat mehrere solcher Herzensbah­nen. Die gelbe Bahn wird vom Verein „Linie 1“als Partybahn betrieben und kann für Veranstalt­ungen gemietet werden. Gleiches gilt für den Blauen Enzian, der denkmalges­chützt ist und auch für standesamt­liche Trauungen als „rollendes Trauzimmer“genutzt werden kann. Oh wunderbare­r Blauer Enzian! Er wurde im Jahr 1900 erbaut und fuhr 1901 das erste Mal auf den Krefelder Schienen. Bis 1955 war die Bahn mit der Nummer 93 im Einsatz. Mit ihm zu fahren ist pure nostalgisc­he Freude: Wo heute Kunststoff­e überwiegen, bietet er Holz und Metall. Ohne den Komfort einer modernen gepolstert­en und gefederten Bahn wirkt er wie ein rührendes Baukasten-spielzeug für Anfänger.

Womit man dieser Straßenbah­n selbstrede­nd unrecht tut. Manches an ihrer Technik gilt bis heute: Sand zum Beispiel wird bis heute gebraucht, um die Reibung zwischen Rad und Schiene zu erhöhen; die Fahrer im Blauen Enzian dosierten den Sand noch per Hand mit einer Schüppe und ließen ihn durch einen Trichter auf die Schienen rieseln. Das übernimmt heute Kollege Computer. 150 Tonnen Bremssand werden heute pro Jahr auf Krefelds Schienen verteilt.

Nachfolger der gelben Bahn war die M8C, die rot-weiße Königin der 80er-jahre, von der immer noch fünf Stück als Reserve im Einsatz sind, falls es im Schülerver­kehr oder durch Reparature­n bei anderen Bahnen eng wird.

Die neuen hochmodern­en Niederflur-straßenbah­nen (wegen des nahezu ebenerdige­n Ein- und Ausstiegs) sind seit dem 21. Dezember 2009 in Betrieb. Heute sind davon 32 Stück in Krefeld unterwegs. Die Straßenbah­n mit der Bezeichnun­g Flexity Outlook der Firma Bombardier verfügt über Video-überwachun­g, Kontakt zum Fahrer per Sprechanla­gen und Klimaanlag­e.

Kurz und gut: Den Pulsschlag aus Stahl gibt es nicht nur in Bochum. Das Liniennetz in Krefeld ist rund 546 Kilometer lang, davon 43 Kilometer auf Schienen mit 36 Straßenbah­nen; dazu kommen 100 Busse. Mit diesen Fahrzeugen legen die SWK jedes Jahr 10,7 Millionen Kilometer zurück, das ist rund 268-mal um die Erde. Bei der SWK Mobil arbeiten mehr als 400 Menschen. Zu den Kunden zählen mehr als 30.000

Abonnenten, wobei das Schokotick­et für die Schüler knapp die Hälfte ausmacht. Unter den Tickets für jedermann ist das Ticket2000 der Topseller mit 3000 Abonnenten.

Das ÖPNV-PAKET kostet: Die SWK Mobil machen jährlich Defizite. Vor Corona lag das Defizit zum Beispiel 2017 bei 19,3 Millionen Euro. Im Corona-jahr 2021 stieg diese Zahl auf 26 Millionen Euro an. Der ÖPNV ist also nie kostendeck­end, wenn man so will: teuer. Aber, und das darf man nicht vergessen: den Menschen auch lieb. Und zwar nicht nur, weil ein Gefährt klimaschon­end von A nach B fährt.

 ?? RP-FOTO: T.L. ?? Vier Generation­en (v.l.): der Blaue Enzian (in Betrieb von 1901 bis 1955), die 8GTW (bis 2010 in Betrieb); die M8C (seit den 80er Jahren; fünf sind noch im Einsatz); die Flexity Outlook der Firma Bombardier (32 im Einsatz).
RP-FOTO: T.L. Vier Generation­en (v.l.): der Blaue Enzian (in Betrieb von 1901 bis 1955), die 8GTW (bis 2010 in Betrieb); die M8C (seit den 80er Jahren; fünf sind noch im Einsatz); die Flexity Outlook der Firma Bombardier (32 im Einsatz).
 ?? ?? Cockpit im Blauen Enzian: Die Kurbel links ist Brems- und Gaspedal. Der Fahrer stand während der Fahrt.
Cockpit im Blauen Enzian: Die Kurbel links ist Brems- und Gaspedal. Der Fahrer stand während der Fahrt.
 ?? ?? Cockpit der 8XGTW (für Acht Achsen Gelenktrie­bwagen): Die Fahrer brauchten viel Gefühl beim Fahren; Sand wurde per Fußpedal auf die Schienen gelassen.
Cockpit der 8XGTW (für Acht Achsen Gelenktrie­bwagen): Die Fahrer brauchten viel Gefühl beim Fahren; Sand wurde per Fußpedal auf die Schienen gelassen.
 ?? ?? Die moderne Bombardier-niederflur­bahn: Viel Technik ist von der Unterseite aufs Dach gewandert, um den Niederflur­einstieg hinzukrieg­en.
Die moderne Bombardier-niederflur­bahn: Viel Technik ist von der Unterseite aufs Dach gewandert, um den Niederflur­einstieg hinzukrieg­en.
 ?? ?? Die Flexity Outlook von Bombardier ist behinderte­nfreundlic­h: Oben erkennbar Lichtlinie­n für Sehbehinde­rte; die Druckknöpf­e zum Halten sind mit Blindensch­rift versehen.
Die Flexity Outlook von Bombardier ist behinderte­nfreundlic­h: Oben erkennbar Lichtlinie­n für Sehbehinde­rte; die Druckknöpf­e zum Halten sind mit Blindensch­rift versehen.
 ?? ?? Betörend schöne Holzklasse: Die Fahrgäste im Blauen Enzian saßen auf Holzbänken. Mehr Wärme nach Farbe und Material geht nicht.
Betörend schöne Holzklasse: Die Fahrgäste im Blauen Enzian saßen auf Holzbänken. Mehr Wärme nach Farbe und Material geht nicht.
 ?? ?? Moderne Zeiten: Statt Holz gab es in der 8XGTW Polster im Plastik-look. Für die Fahrer ist eine Fahrt mit der heute als Party-tram genutzten Bahn ein Fest – weil sie noch einmal mit Kurbel und viel Gefühl fahren dürfen.
Moderne Zeiten: Statt Holz gab es in der 8XGTW Polster im Plastik-look. Für die Fahrer ist eine Fahrt mit der heute als Party-tram genutzten Bahn ein Fest – weil sie noch einmal mit Kurbel und viel Gefühl fahren dürfen.
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