Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Wir verdienen uns keine goldene Nase“
Die Hausärztinnen sprechen über ihren Arbeitsalltag, Herausforderungen, Glücksmomente und wie die Politik dem Ärztemangel auf dem Land begegnen könnte.
Frau Rasch, Frau Czarnotta, was lieben Sie an Ihrem Beruf am meisten?
Ich bin eigentlich eine Quereinsteigerin, denn ursprünglich wollte ich mich als Gastroenterologin niederlassen. Weil es aber zu diesem Zeitpunkt keine Sitze gab, habe ich in die Hausarztmedizin hineingeschnuppert und festgestellt: Genau das ist es, was ich machen möchte. Wieso? Weil es so facettenreich ist. Es ist gelebte Anamnese, ich begleite Familien teilweise über Generationen hinweg. Ich bin Lotsin im System, ich bin Vertrauens- und Bezugsperson für meine Patienten und Patientinnen. Das alles begeistert mich immer wieder. Und außerdem bin ich nicht nur Ärztin, sondern auch Unternehmerin und manchmal sogar eine unterstützende Wegbegleiterin bei Entscheidungsfindungen.
CZARNOTTA Ich sehe es ganz ähnlich. Vor allem diese generationsübergreifende Versorgung finde ich total toll. Zum Teil habe ich vier Generationen in meiner Behandlung, gerade diese langen Arzt-patientenbeziehungen sind einfach spannend. Manche Patienten kennen wir seit dem Kindesalter, und plötzlich kommen sie mit den eigenen Kindern zu uns. Diese besonders enge Bindung zwischen Arzt und Patienten, das ist für mich das Schönste an meinem Beruf.
Hausärzte müssen alles wissen und sind doch keine Spezialisten. Ist etwas dran an diesem Klischee?
CZARNOTTA Wir sind schon Spezialisten, und zwar für Familienmedizin. Und obwohl wir dann irgendwann unsere Grenzen erreichen, müssen wir doch über alle modernen Arzneien und neue Therapien immer auf dem Laufenden sein. Denn die Patienten sprechen uns als Erstes darauf an, und dann müssen wir ihre Fragen beantworten können. Zwar geht es nicht ganz bis in die Tiefe, aber ich finde schon, eine hohe Spezialisierung ist bei uns dabei.
RASCH Dieser Aspekt, dass wir erste Anlaufstelle sind, ist sehr wichtig. Denn bis man einen Termin beim Facharzt bekommt, dauert es häufig Wochen oder Monate. So lange können viele Patienten und Patientinnen mit akuten Beschwerden, wie etwa Rückenschmerzen, Luftnot oder Bauchschmerzen aber nicht warten. Wir leiten zuerst die Diagnostik und Therapie ein und überweisen dann mit einer Verdachtsdiagnose zum entsprechenden Facharzt beziehungsweise Fachärztin. Wir sind die Primärversorger.
Welches ist Ihrer Ansicht die wichtigste Kernkompetenz eines Hausarztes oder einer Hausärztin?
CZARNOTTA Immer den Überblick zu behalten. Es ist unglaublich wichtig, zu entscheiden: Wo braucht der Patient mehr Therapie, wo kann oder muss man runterschrauben? Es geht immer darum, zu erkennen: Wo steht der Patient bei seiner Behandlung?
RASCH Wir müssen die Patienten abholen, uns Zeit nehmen für eine ausreichende Kommunikation. Wir müssen mit Patienten bestimmte Diagnosen besprechen und viele Facharztberichte genauer erklären. Das findet anderswo ja häufig nicht mehr statt. Es geht darum, Überdiagnostik zu vermeiden, aber eine Unterdiagnostik auch nicht zu fördern.
Im Ausland werden wir bewundert für unser Gesundheitssystem. Dennoch hat man hierzulande den Eindruck, viele Ärzte, Patienten und Pflegekräfte sind unzufrieden. Woran liegt das?
RASCH Ganz einfach: Die Krankenkassen versprechen ihren Versicherten viel, aber zahlen dafür nichts. Den Patienten wird suggeriert, sie hätten durch ihre Kassenbeiträge Anspruch auf alle Leistungen. Jedoch sieht es in der Realität anders aus. Wir sind budgetiert und befürchten Regresse. Die Honorare sind zudem ein entscheidender Punkt, und hier gibt es im Vergleich zum europäischen Ausland zum Teil enorme Unterschiede. Wir bekommen pro Patient eine Pauschale von etwa 45 Euro pro Quartal – und das nur, wenn der Patient in der Praxis war. Welcher Anwalt würde für 45 Euro drei Monate lang beraten? Meine Arbeit als Ärztin empfinde ich jeden Tag zwar als meine Berufung, und ich mache sie sehr gerne. Aber es ist auch mein Beruf, und ich muss davon leben können und das unternehmerische Risiko tragen. Mit unserem ärztlichen Honorar bezahlen wir unsere Angestellten, Mieten und zugleich die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Einen Unternehmer-bonus gibt es übrigens auch nicht.
CZARNOTTA Es wird zunehmend der Mangel verwaltet. Die Ansprüche und Erwartungen der Patienten sind genauso wie vor zehn oder 15 Jahren, aber die finanzielle und personelle Situation ist deutlich schlechter geworden. Dies bekommen wir auch aus den Krankenhäusern zurückgemeldet. Dort herrschen eine unglaubliche Arbeitsdichte und ein hoher Durchsatz – entsprechend hoch ist die Unzufriedenheit bei allen Beteiligten. Kein Patient kann heute mehr im Krankenhaus gesund werden. Lange Wartezeiten, keine Zeit für Gespräche, Unzufriedenheit beim Personal – all das spüren auch die Patienten.
Besonders im ländlichen Raum suchen viele ältere Praxisinhaber vergeblich Nachfolger oder Nachfolgerinnen. Wie könnte man hier Anreize schaffen?
CZARNOTTA Die finanzielle Unsicherheit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das sind die größten Hürden für eine Niederlassung.
RASCH Es fehlen vor allem bessere Betreuungskonzepte – das wäre übrigens ein Vorteil für alle Branchen. Und die Pläne von Herrn Lauterbachs Gesundheitsreform, dass wir Hausärzte und -ärztinnen künftig auch am Wochenende arbeiten sollen, sind nicht gerade ein Anreiz, sich niederzulassen. Zumal gerade auch die junge Generation mehr Wert auf Work-life-balance legt – was ich ausdrücklich gut und richtig finde. Da geht man als junger Mensch doch lieber ins Angestelltenverhältnis, als auf dem Land einen Arztsitz zu übernehmen, in dem man Tag und Nacht Ansprechpartner ist. Schwierig ist auch das Thema Mutterschutz. Als angestellte Ärztin haben Sie Anspruch auf Mutterschutz. Als niedergelassene Ärztin ist das nicht der Fall.
Aber dieses Problem haben andere Selbstständige auch.
RASCH Das stimmt. Aber als Ärztin habe ich eine besondere Fürsorgepflicht. Wenn ich einen Sitz habe, dann muss ich schauen, dass er funktioniert. Ich kann meine Niederlassung nicht pausieren. Das muss die Politik dringend angehen – zum Wohle aller Branchen. Aber im Gesundheitswesen wird es besonders wichtig, denn wir werden künftig immer mehr Ärztinnen haben. Die Medizin wird weiblich.
Warum ist das so?
RASCH Vor allem deshalb, weil die Mädchen häufiger ein Einser-abitur haben als die Jungs und daher schneller einen Studienplatz bekommen. Wir haben aktuell 70 bis 80 Prozent Medizinstudentinnen an den Unis. Schon in zehn Jahren wird es daher mehr Ärztinnen als Ärzte geben.
In vielen Branchen wird die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen beklagt. Wie sieht das in der Medizin aus?
CZARNOTTA Im Angestelltenverhältnis wird man nach Tarif bezahlt beziehungsweise bekommt als Niedergelassener sein Budget. Aber weil Frauen häufig in Teilzeit arbeiten, kommen sie natürlich nicht auf diese Gehälter. Und weil sie teilweise deshalb auch länger für ihren Facharzt brauchen, kommen sie oft auch nicht in höhere und besser bezahlte Positionen.
Wie sieht Ihrer Einschätzung nach die ärztliche Versorgung in Deutschland in zehn Jahren aus?
RASCH Im Moment haben wir im Bezirk Nordrhein 819 Hausarztsitze frei, von insgesamt rund 6000, das ist der Stand vom November 2023. Darunter sind auch Praxen in großen Städten und bester Lage. Diese Situation wird sich noch verschärfen, denn in den nächsten fünf Jahren werden über 1000 Hausärzte im Bezirk Nordrhein in Rente gehen.
Umso wichtiger wäre es also, dass die Politik die genannten Probleme zeitnah angeht.
RASCH Unbedingt. Bessere Betreuungskonzepte, höhere Honorare und die von der Politik versprochene und längst überfällige Entbudgetierung – das wären entscheidende Schritte, um den Beruf gerade auch für Frauen attraktiver zu machen.
CZARNOTTA Wir verdienen uns keine goldene Nase, dafür sind wir nicht Hausärztinnen geworden. Aber es muss eine Sicherheit gegeben sein, dass wir am Ende des Tages einen gewissen Betrag X als Gewinn haben, mit dem man arbeiten kann. Eine solche finanzielle Planungssicherheit wäre sicher ein wichtiger Anreiz für junge Ärztinnen und Ärzte, sich niederzulassen.