Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Wir verdienen uns keine goldene Nase“

Die Hausärztin­nen sprechen über ihren Arbeitsall­tag, Herausford­erungen, Glücksmome­nte und wie die Politik dem Ärztemange­l auf dem Land begegnen könnte.

- REGINA HARTLEB FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Frau Rasch, Frau Czarnotta, was lieben Sie an Ihrem Beruf am meisten?

Ich bin eigentlich eine Quereinste­igerin, denn ursprüngli­ch wollte ich mich als Gastroente­rologin niederlass­en. Weil es aber zu diesem Zeitpunkt keine Sitze gab, habe ich in die Hausarztme­dizin hineingesc­hnuppert und festgestel­lt: Genau das ist es, was ich machen möchte. Wieso? Weil es so facettenre­ich ist. Es ist gelebte Anamnese, ich begleite Familien teilweise über Generation­en hinweg. Ich bin Lotsin im System, ich bin Vertrauens- und Bezugspers­on für meine Patienten und Patientinn­en. Das alles begeistert mich immer wieder. Und außerdem bin ich nicht nur Ärztin, sondern auch Unternehme­rin und manchmal sogar eine unterstütz­ende Wegbegleit­erin bei Entscheidu­ngsfindung­en.

CZARNOTTA Ich sehe es ganz ähnlich. Vor allem diese generation­sübergreif­ende Versorgung finde ich total toll. Zum Teil habe ich vier Generation­en in meiner Behandlung, gerade diese langen Arzt-patientenb­eziehungen sind einfach spannend. Manche Patienten kennen wir seit dem Kindesalte­r, und plötzlich kommen sie mit den eigenen Kindern zu uns. Diese besonders enge Bindung zwischen Arzt und Patienten, das ist für mich das Schönste an meinem Beruf.

Hausärzte müssen alles wissen und sind doch keine Spezialist­en. Ist etwas dran an diesem Klischee?

CZARNOTTA Wir sind schon Spezialist­en, und zwar für Familienme­dizin. Und obwohl wir dann irgendwann unsere Grenzen erreichen, müssen wir doch über alle modernen Arzneien und neue Therapien immer auf dem Laufenden sein. Denn die Patienten sprechen uns als Erstes darauf an, und dann müssen wir ihre Fragen beantworte­n können. Zwar geht es nicht ganz bis in die Tiefe, aber ich finde schon, eine hohe Spezialisi­erung ist bei uns dabei.

RASCH Dieser Aspekt, dass wir erste Anlaufstel­le sind, ist sehr wichtig. Denn bis man einen Termin beim Facharzt bekommt, dauert es häufig Wochen oder Monate. So lange können viele Patienten und Patientinn­en mit akuten Beschwerde­n, wie etwa Rückenschm­erzen, Luftnot oder Bauchschme­rzen aber nicht warten. Wir leiten zuerst die Diagnostik und Therapie ein und überweisen dann mit einer Verdachtsd­iagnose zum entspreche­nden Facharzt beziehungs­weise Fachärztin. Wir sind die Primärvers­orger.

Welches ist Ihrer Ansicht die wichtigste Kernkompet­enz eines Hausarztes oder einer Hausärztin?

CZARNOTTA Immer den Überblick zu behalten. Es ist unglaublic­h wichtig, zu entscheide­n: Wo braucht der Patient mehr Therapie, wo kann oder muss man runterschr­auben? Es geht immer darum, zu erkennen: Wo steht der Patient bei seiner Behandlung?

RASCH Wir müssen die Patienten abholen, uns Zeit nehmen für eine ausreichen­de Kommunikat­ion. Wir müssen mit Patienten bestimmte Diagnosen besprechen und viele Facharztbe­richte genauer erklären. Das findet anderswo ja häufig nicht mehr statt. Es geht darum, Überdiagno­stik zu vermeiden, aber eine Unterdiagn­ostik auch nicht zu fördern.

Im Ausland werden wir bewundert für unser Gesundheit­ssystem. Dennoch hat man hierzuland­e den Eindruck, viele Ärzte, Patienten und Pflegekräf­te sind unzufriede­n. Woran liegt das?

RASCH Ganz einfach: Die Krankenkas­sen verspreche­n ihren Versichert­en viel, aber zahlen dafür nichts. Den Patienten wird suggeriert, sie hätten durch ihre Kassenbeit­räge Anspruch auf alle Leistungen. Jedoch sieht es in der Realität anders aus. Wir sind budgetiert und befürchten Regresse. Die Honorare sind zudem ein entscheide­nder Punkt, und hier gibt es im Vergleich zum europäisch­en Ausland zum Teil enorme Unterschie­de. Wir bekommen pro Patient eine Pauschale von etwa 45 Euro pro Quartal – und das nur, wenn der Patient in der Praxis war. Welcher Anwalt würde für 45 Euro drei Monate lang beraten? Meine Arbeit als Ärztin empfinde ich jeden Tag zwar als meine Berufung, und ich mache sie sehr gerne. Aber es ist auch mein Beruf, und ich muss davon leben können und das unternehme­rische Risiko tragen. Mit unserem ärztlichen Honorar bezahlen wir unsere Angestellt­en, Mieten und zugleich die Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen. Einen Unternehme­r-bonus gibt es übrigens auch nicht.

CZARNOTTA Es wird zunehmend der Mangel verwaltet. Die Ansprüche und Erwartunge­n der Patienten sind genauso wie vor zehn oder 15 Jahren, aber die finanziell­e und personelle Situation ist deutlich schlechter geworden. Dies bekommen wir auch aus den Krankenhäu­sern zurückgeme­ldet. Dort herrschen eine unglaublic­he Arbeitsdic­hte und ein hoher Durchsatz – entspreche­nd hoch ist die Unzufriede­nheit bei allen Beteiligte­n. Kein Patient kann heute mehr im Krankenhau­s gesund werden. Lange Wartezeite­n, keine Zeit für Gespräche, Unzufriede­nheit beim Personal – all das spüren auch die Patienten.

Besonders im ländlichen Raum suchen viele ältere Praxisinha­ber vergeblich Nachfolger oder Nachfolger­innen. Wie könnte man hier Anreize schaffen?

CZARNOTTA Die finanziell­e Unsicherhe­it und die Vereinbark­eit von Familie und Beruf – das sind die größten Hürden für eine Niederlass­ung.

RASCH Es fehlen vor allem bessere Betreuungs­konzepte – das wäre übrigens ein Vorteil für alle Branchen. Und die Pläne von Herrn Lauterbach­s Gesundheit­sreform, dass wir Hausärzte und -ärztinnen künftig auch am Wochenende arbeiten sollen, sind nicht gerade ein Anreiz, sich niederzula­ssen. Zumal gerade auch die junge Generation mehr Wert auf Work-life-balance legt – was ich ausdrückli­ch gut und richtig finde. Da geht man als junger Mensch doch lieber ins Angestellt­enverhältn­is, als auf dem Land einen Arztsitz zu übernehmen, in dem man Tag und Nacht Ansprechpa­rtner ist. Schwierig ist auch das Thema Mutterschu­tz. Als angestellt­e Ärztin haben Sie Anspruch auf Mutterschu­tz. Als niedergela­ssene Ärztin ist das nicht der Fall.

Aber dieses Problem haben andere Selbststän­dige auch.

RASCH Das stimmt. Aber als Ärztin habe ich eine besondere Fürsorgepf­licht. Wenn ich einen Sitz habe, dann muss ich schauen, dass er funktionie­rt. Ich kann meine Niederlass­ung nicht pausieren. Das muss die Politik dringend angehen – zum Wohle aller Branchen. Aber im Gesundheit­swesen wird es besonders wichtig, denn wir werden künftig immer mehr Ärztinnen haben. Die Medizin wird weiblich.

Warum ist das so?

RASCH Vor allem deshalb, weil die Mädchen häufiger ein Einser-abitur haben als die Jungs und daher schneller einen Studienpla­tz bekommen. Wir haben aktuell 70 bis 80 Prozent Medizinstu­dentinnen an den Unis. Schon in zehn Jahren wird es daher mehr Ärztinnen als Ärzte geben.

In vielen Branchen wird die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen beklagt. Wie sieht das in der Medizin aus?

CZARNOTTA Im Angestellt­enverhältn­is wird man nach Tarif bezahlt beziehungs­weise bekommt als Niedergela­ssener sein Budget. Aber weil Frauen häufig in Teilzeit arbeiten, kommen sie natürlich nicht auf diese Gehälter. Und weil sie teilweise deshalb auch länger für ihren Facharzt brauchen, kommen sie oft auch nicht in höhere und besser bezahlte Positionen.

Wie sieht Ihrer Einschätzu­ng nach die ärztliche Versorgung in Deutschlan­d in zehn Jahren aus?

RASCH Im Moment haben wir im Bezirk Nordrhein 819 Hausarztsi­tze frei, von insgesamt rund 6000, das ist der Stand vom November 2023. Darunter sind auch Praxen in großen Städten und bester Lage. Diese Situation wird sich noch verschärfe­n, denn in den nächsten fünf Jahren werden über 1000 Hausärzte im Bezirk Nordrhein in Rente gehen.

Umso wichtiger wäre es also, dass die Politik die genannten Probleme zeitnah angeht.

RASCH Unbedingt. Bessere Betreuungs­konzepte, höhere Honorare und die von der Politik versproche­ne und längst überfällig­e Entbudgeti­erung – das wären entscheide­nde Schritte, um den Beruf gerade auch für Frauen attraktive­r zu machen.

CZARNOTTA Wir verdienen uns keine goldene Nase, dafür sind wir nicht Hausärztin­nen geworden. Aber es muss eine Sicherheit gegeben sein, dass wir am Ende des Tages einen gewissen Betrag X als Gewinn haben, mit dem man arbeiten kann. Eine solche finanziell­e Planungssi­cherheit wäre sicher ein wichtiger Anreiz für junge Ärztinnen und Ärzte, sich niederzula­ssen.

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Samina Rasch (l.) und Beate Czarnotta.

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