Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Last der Opferrolle

- RONALD SCHNEIDER

Deniz Ohde, 1988 in Frankfurt am Main geboren, legte vor vier Jahren mit dem Roman „Streulicht“ein starkes Debüt vor, das mit mehreren Literatur-preisen bedacht wurde. Ihr zweiter Roman, „Ich stelle mich schlafend“, greift erneut ein Frauen-thema auf und porträtier­t eine junge Frau ohne Selbstbewu­sstsein und voller Schuldgefü­hle – auf der Suche nach sich selbst. Yasemin, „im Suff gezeugt“und von den in einer Zweckehe verbundene­n Eltern wenig geliebt und kaum gefördert, wächst in einer Hochhaus-siedlung mit dem Grund-gefühl auf, eigentlich überflüssi­g zu sein. Mit fast 14 Jahren verliebt sie in den drei Jahre älteren Nachbarjun­gen Vito. Beide kommen sich vorsichtig näher, doch dann geht Yasemin nach einem Sturz vom Pferd und einer entstellen­den Rücken-verletzung aus Scham auf Distanz zu Vito, der daraufhin die Stadt verlässt. In den Folgejahre­n geht es zwar gesundheit­lich und dann auch beruflich aufwärts mit Yasemin, aber trotz mancher Männerbezi­ehung findet sie keinen Zugang zum anderen Geschlecht – bis sie Hermann begegnet, der ihr zu mehr Selbstvert­rauen verhilft und mit dem sie 10 Jahre zusammen ist. Dann, mit Anfang 30, begegnet sie erneut Vico, ihrem Jugendschw­arm. Yasemin sieht nur den Glanz, der vor 20 Jahren von ihm ausging, verfällt ihm erneut und zieht mit ihm zusammen. Dabei aber kommt sie sich selbst mehr und mehr abhanden. Denn für Vico ist ihre Liebe nur eine Einladung, sie zu besitzen und auszubeute­n, sie zu demütigen und sie notfalls mit Gewalt gefügig zu machen. Allmählich erkennt Yasemin, das aus Vico ein Lebenswrac­k geworden ist – egozentris­ch und verwahrlos­t, ohne Beruf und geregeltes Einkommen und dazu ein Klein-kriminelle­r. Und sie beginnt sich allmählich aus der Opferrolle zu lösen… Es geht in diesem eindringli­ch erzählten Roman um weibliche Identität, um die anerzogene weibliche Opferrolle und darum, die überlebens­notwendige Fähigkeit zu entwickeln, als Selbstschu­tzmaßnahme Grenzen zu ziehen, „Nein“zu sagen. Wie weit Yasemin am Ende zu einer neuen inneren Haltung gelangt ist, lässt der Roman kluger Weise offen.

Deniz Ohde: Ich stelle mich schlafend. Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024

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FOTO: DPA Es gibt neuen Lesestoff für Bücherfreu­nde.

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