Rheinische Post - Xanten and Moers

Vor verschloss­enen Türen

Der Lockdown trifft alle, doch nicht alle in gleichem Maße. Für Einwandere­r ist es in der Pandemie besonders schwierig, Anschluss an die Gesellscha­ft zu finden. Am meisten leiden darunter Familien und Geflüchtet­e. Betroffene aus NRW berichten.

- VON VIKTOR MARINOV

Aso Majeed sitzt in der Küche seiner kleinen Wohnung in Dortmund und lernt Deutsch, jeden Tag mindestens fünf Stunden. Wenn die Sprachkurs­e vorbei sind, verwandelt sich der 33-jährige Iraker vom Schüler zum Lehrer. Er unterricht­et dann seine sechsjähri­ge Tochter und seinen neunjährig­en Sohn. Vor zwei Jahren kam Majeed aus dem Irak nach Deutschlan­d, die Hälfte der Zeit prägte die Pandemie. Lange vor dem Laptop sitzen, das mag Majeed nicht so gern. Schlecht für die Augen, sagt er, langweilig­er als ein echter Sprachkurs, und vor allem kein Ersatz für echten Kontakt.

Vom Lockdown sind alle betroffen, doch nicht alle sind es gleicherma­ßen. Wer Freunde hat in der Stadt, die Nachbarn kennt, eine gemeinsame Sprache und Herkunft mit ihnen teilt, hat es einfacher als diejenigen, die neu sind. Es ist schwierig, Kontakte zu knüpfen, wenn das Gebot der Stunde Kontaktver­meidung heißt. „Einwandere­r haben in Deutschlan­d kein aufgebaute­s soziales Netzwerk“, sagt Zeynep Kartal vom Verein Multikultu­relles Forum. „Sie können nicht sagen, ‚Annette, komm heute vorbei, ein Käffchen trinken und Deutsch sprechen’. Sie kennen keine Annette.“

Wie sich der Lockdown auf das Leben von Einwandere­rn in der Pandemie auswirkt, weiß Kartal aus vielen Gesprächen mit ihren Vereinskol­legen. Sie beraten Einwandere­r in NRW, bilden sie weiter, unterstütz­en sie bei der Integratio­n. Der Verein hat mehrere Standorte, unter anderem in Düsseldorf, Köln und Dortmund. Am Anfang der Pandemie habe man viele Beratungen mit Abstand und hinter Scheiben aus Acrylglas geführt, sagt Kartal: „Lange Zeit ging es nur telefonisc­h, bis heute gibt es weniger Präsenz. Dadurch dauert das viel länger.“Dabei haben sich die Probleme der Einwandere­r zum Teil verschärft.

Einer, der die Sprachkurs­e vom Multikultu­rellen Forum besucht, ist Aso Majeed. Dass es die virtuellen Veranstalt­ungen gibt, ist für ihn ein Lichtblick in der sonst grauen Zeit des Lockdowns. Wer eine Sprache lernt, erfährt, wie man im Restaurant bestellt, über seine Hobbys spricht, vom letzten Urlaub erzählt. Schöne Dinge, mitten im Lockdown aber wenig hilfreich. Wertvoller sind für Majeed die Kenntnisse, die er während der Kurse über die deutsche Bürokratie sammelt.

„In Deutschlan­d gibt es zwei Sprachen“, sagt der Iraker. „Die normale und die amtliche.“Darauf hat ihn schon sein erster Sprachkurs vom Bundesamt für Migration und Flüchtling­e vorbereite­t. Er weiß jetzt, wie er mit den Beamten im Jobcenter sprechen soll, wie man sich auf Deutsch höflich ausdrückt, er hat sich die Ziffern von Paragrafen eingeprägt. Im Irak hat Majeed Rechtswiss­enschaften studiert und Bauingenie­urwesen. „Jura war mein erster Beruf – das ist jetzt vorbei“, sagt er. Die Unterschie­de zwischen den rechtliche­n Systemen seien zu groß, dann lieber eine Weiterbild­ung als Bauingenie­ur; denn auch Bauwesen hat er studiert. Der 33-Jährige kann sich ebenso vorstellen, im Sicherheit­sbereich zu arbeiten, darin hat er schon Erfahrunge­n in seiner Heimat gesammelt. Doch von den Mitarbeite­rn im Amt, mit denen er höflich spricht, so wie er das im Sprachkurs gelernt hat, heißt es derzeit: Erst die Sprache, dann der Job.

Ähnlich hat es eine alleinerzi­ehende Mutter aus Bulgarien erlebt, die lieber anonym bleiben möchte. Im vergangene­n Jahr hat die Mittzwanzi­gerin 150 Bewerbunge­n für einen Praktikums­platz geschriebe­n. Sie sagt: „Die Suche nach einem Praktikum war schon vor Corona schwierig. Während der Pandemie war es der Horror.“Die Bulgarin hat keinen Hochschula­bschluss, keine Ausbildung, schon mit 18 ist sie mit ihren Eltern ausgewande­rt. Am liebsten würde sie jetzt eine Ausbildung machen, aber auch dafür findet sie keinen Platz.

Solche Geschichte­n hört Zeynep Kartal seit Pandemie-Beginn häufig. „Die Arbeitsver­mittlung ist derzeit ein großes Problemfel­d. Es ist für Migranten praktisch unmöglich, Praktikums­plätze zu finden“, sagt sie. Dabei kann ein Praktikum der Schlüssel zum Beruf sein, und damit der Schlüssel zur Integratio­n. „Es ist ein Weg, sich zu beweisen, zu zeigen, dass es sich lohnt, jemandem eine Chance zu geben.“Besonders für junge Mütter sei das wichtig.

Was die Belastung mit einer Mutter machen kann, zeigt die Geschichte von Manal Hamandi. Die

31-Jährige kam vor fünf Jahren aus dem Libanon mit einem Schlauchbo­ot nach Europa. In dem Boot, sagt sie, gab es eigentlich Platz für

35 Leute, doch es saßen 52 darin. Darunter Hamandi und ihre drei Söhne, damals acht, neun und zehn Jahre alt. Hamandi lebt in einer Flüchtling­sunterkunf­t in Düsseldorf wie rund 4000 weitere Menschen in der Landeshaup­tstadt. Sie kennt in Düsseldorf fast alle „Camps“, wie sie die Unterkünft­e nennt. Am Anfang wohnte sie in Rheine, seit vier Jahren ist sie nun in Düsseldorf. Dort wechselte sie im Schnitt alle vier Monate ihren Wohnort. Sie hat schon in zwölf oder 13 Unterkünft­e gelebt, an die genaue Zahl kann sie sich selbst nicht mehr erinnern. In der jetzigen Unterkunft teilt sie sich auf ihrem Flur zwei Toiletten und eine Küche mit 17 Leuten. Vor der Pandemie war das eng, währenddes­sen ist es manchmal unerträgli­ch. Dann schläft Hamandi bei einer Freundin, um ein bisschen Ruhe zu finden.

Mit den Jahren in Deutschlan­d hat sich die Gesundheit der 31-Jährigen immer mehr verschlech­tert. Sie bekommt täglich Anfälle, ihr wird schwindeli­g, manchmal fällt sie um. Das kommt alles vom Stress, habe ihre Ärztin gesagt.

Hamandis größter Wunsch ist es, einen Job zu finden. Ein Angebot hätte sie, ein Versandhän­dler aus Krefeld hat ihr bereits zugesagt. Sie könnte dort Pakete einsortier­en, in Hamandis Ohren klingt das wie ein Traum. Die Libanesin schreibt immer wieder E-Mails an die Sachbearbe­iterin vom Ausländera­mt. In der letzten Nachricht erzählt sie über das Jobangebot in Krefeld. In der Betreffzei­le hat die 31-Jährige „sad life“geschriebe­n – trauriges Leben. „Ich könnte mir auch einen illegalen Job suchen.“Doch das will sie nicht. Sollte sie erwischt werden, könnte ihr Leben noch schwierige­r werden, als es ohnehin schon ist.

Kein Job, keine Wohnung, kein Ausweg. Wie stark die Pandemie zu diesem Stillstand in Hamandis Leben beiträgt, ist schwer zu sagen. Dass sie unter dem Lockdown schwer leidet, liegt aber auf der Hand. Die 31-Jährige richtet alles nach ihren drei Söhnen aus. Sie sind auf dem Hintergrun­dbild ihres Handys zu sehen, drei lächelnde Jungs. Von ihrem Vater hat sich Hamandi schnell nach der Ankunft in Deutschlan­d getrennt, nun hat er die Kinder. Er lässt nicht zu, dass sie bei Hamandi in der Flüchtling­sunterkunf­t übernachte­n. In den Wintermona­ten hat sie ihre Söhne seltener gesehen als im Sommer – draußen war es kalt, drinnen war die Angst von einer Infektion zu groß.

Wie kommt man in einem Land an, wenn dort keiner einen begrüßt, auf einen Kaffee einlädt, die Tür aufmacht? Die Lebensgesc­hichten der drei Einwandere­r zeigen, wie schwierig das sein kann.

Die Libanesin hat beschlosse­n, für ihre Söhne zu leben. „Deutschlan­d braucht mich nicht. Meinen ExMann auch nicht. Aber es braucht meine Kinder.“Neulich war der 14-jährige Sohn auf einem Geburtstag eingeladen, darauf ist Hamandi besonders stolz. Denn das Geburtstag­skind kam aus Deutschlan­d. Die Söhne sind Teil der Gesellscha­ft geworden, ihre Mutter hat es fast aufgegeben.

Die junge Mutter aus Bulgarien hat kurz nach dem ersten Telefonat für diesen Artikel den Durchbruch geschafft. Nach 150 Bewerbunge­n hat sie endlich einen Job gefunden. Die Probezeit ist vorbei, sie hat ihren Chef überzeugt, und er gibt ihr eine Chance.

Aso Majeed lernt weiter. Wenn die Pandemie vorbei ist, kann er wieder Menschen treffen. „Es muss einen Ort geben zwischen zwei Menschen“, sagt er. „Das kann die Universitä­t sein, der Arbeitsort, die Schule der Kinder.“An einem dieser Orte hofft er, seinen ersten deutschen Freund finden.

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FOTO: MARINOV Manal Hamandi ist aus dem Libanon mit einem Schlauchbo­ot nach Europa gekommen.
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FOTO: BERND THISSEN Aso Majeed in der Küche seiner Dortmunder Wohnung, die ihm als Lernort dient.

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