Rheinische Post - Xanten and Moers
Vor verschlossenen Türen
Der Lockdown trifft alle, doch nicht alle in gleichem Maße. Für Einwanderer ist es in der Pandemie besonders schwierig, Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Am meisten leiden darunter Familien und Geflüchtete. Betroffene aus NRW berichten.
Aso Majeed sitzt in der Küche seiner kleinen Wohnung in Dortmund und lernt Deutsch, jeden Tag mindestens fünf Stunden. Wenn die Sprachkurse vorbei sind, verwandelt sich der 33-jährige Iraker vom Schüler zum Lehrer. Er unterrichtet dann seine sechsjährige Tochter und seinen neunjährigen Sohn. Vor zwei Jahren kam Majeed aus dem Irak nach Deutschland, die Hälfte der Zeit prägte die Pandemie. Lange vor dem Laptop sitzen, das mag Majeed nicht so gern. Schlecht für die Augen, sagt er, langweiliger als ein echter Sprachkurs, und vor allem kein Ersatz für echten Kontakt.
Vom Lockdown sind alle betroffen, doch nicht alle sind es gleichermaßen. Wer Freunde hat in der Stadt, die Nachbarn kennt, eine gemeinsame Sprache und Herkunft mit ihnen teilt, hat es einfacher als diejenigen, die neu sind. Es ist schwierig, Kontakte zu knüpfen, wenn das Gebot der Stunde Kontaktvermeidung heißt. „Einwanderer haben in Deutschland kein aufgebautes soziales Netzwerk“, sagt Zeynep Kartal vom Verein Multikulturelles Forum. „Sie können nicht sagen, ‚Annette, komm heute vorbei, ein Käffchen trinken und Deutsch sprechen’. Sie kennen keine Annette.“
Wie sich der Lockdown auf das Leben von Einwanderern in der Pandemie auswirkt, weiß Kartal aus vielen Gesprächen mit ihren Vereinskollegen. Sie beraten Einwanderer in NRW, bilden sie weiter, unterstützen sie bei der Integration. Der Verein hat mehrere Standorte, unter anderem in Düsseldorf, Köln und Dortmund. Am Anfang der Pandemie habe man viele Beratungen mit Abstand und hinter Scheiben aus Acrylglas geführt, sagt Kartal: „Lange Zeit ging es nur telefonisch, bis heute gibt es weniger Präsenz. Dadurch dauert das viel länger.“Dabei haben sich die Probleme der Einwanderer zum Teil verschärft.
Einer, der die Sprachkurse vom Multikulturellen Forum besucht, ist Aso Majeed. Dass es die virtuellen Veranstaltungen gibt, ist für ihn ein Lichtblick in der sonst grauen Zeit des Lockdowns. Wer eine Sprache lernt, erfährt, wie man im Restaurant bestellt, über seine Hobbys spricht, vom letzten Urlaub erzählt. Schöne Dinge, mitten im Lockdown aber wenig hilfreich. Wertvoller sind für Majeed die Kenntnisse, die er während der Kurse über die deutsche Bürokratie sammelt.
„In Deutschland gibt es zwei Sprachen“, sagt der Iraker. „Die normale und die amtliche.“Darauf hat ihn schon sein erster Sprachkurs vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorbereitet. Er weiß jetzt, wie er mit den Beamten im Jobcenter sprechen soll, wie man sich auf Deutsch höflich ausdrückt, er hat sich die Ziffern von Paragrafen eingeprägt. Im Irak hat Majeed Rechtswissenschaften studiert und Bauingenieurwesen. „Jura war mein erster Beruf – das ist jetzt vorbei“, sagt er. Die Unterschiede zwischen den rechtlichen Systemen seien zu groß, dann lieber eine Weiterbildung als Bauingenieur; denn auch Bauwesen hat er studiert. Der 33-Jährige kann sich ebenso vorstellen, im Sicherheitsbereich zu arbeiten, darin hat er schon Erfahrungen in seiner Heimat gesammelt. Doch von den Mitarbeitern im Amt, mit denen er höflich spricht, so wie er das im Sprachkurs gelernt hat, heißt es derzeit: Erst die Sprache, dann der Job.
Ähnlich hat es eine alleinerziehende Mutter aus Bulgarien erlebt, die lieber anonym bleiben möchte. Im vergangenen Jahr hat die Mittzwanzigerin 150 Bewerbungen für einen Praktikumsplatz geschrieben. Sie sagt: „Die Suche nach einem Praktikum war schon vor Corona schwierig. Während der Pandemie war es der Horror.“Die Bulgarin hat keinen Hochschulabschluss, keine Ausbildung, schon mit 18 ist sie mit ihren Eltern ausgewandert. Am liebsten würde sie jetzt eine Ausbildung machen, aber auch dafür findet sie keinen Platz.
Solche Geschichten hört Zeynep Kartal seit Pandemie-Beginn häufig. „Die Arbeitsvermittlung ist derzeit ein großes Problemfeld. Es ist für Migranten praktisch unmöglich, Praktikumsplätze zu finden“, sagt sie. Dabei kann ein Praktikum der Schlüssel zum Beruf sein, und damit der Schlüssel zur Integration. „Es ist ein Weg, sich zu beweisen, zu zeigen, dass es sich lohnt, jemandem eine Chance zu geben.“Besonders für junge Mütter sei das wichtig.
Was die Belastung mit einer Mutter machen kann, zeigt die Geschichte von Manal Hamandi. Die
31-Jährige kam vor fünf Jahren aus dem Libanon mit einem Schlauchboot nach Europa. In dem Boot, sagt sie, gab es eigentlich Platz für
35 Leute, doch es saßen 52 darin. Darunter Hamandi und ihre drei Söhne, damals acht, neun und zehn Jahre alt. Hamandi lebt in einer Flüchtlingsunterkunft in Düsseldorf wie rund 4000 weitere Menschen in der Landeshauptstadt. Sie kennt in Düsseldorf fast alle „Camps“, wie sie die Unterkünfte nennt. Am Anfang wohnte sie in Rheine, seit vier Jahren ist sie nun in Düsseldorf. Dort wechselte sie im Schnitt alle vier Monate ihren Wohnort. Sie hat schon in zwölf oder 13 Unterkünfte gelebt, an die genaue Zahl kann sie sich selbst nicht mehr erinnern. In der jetzigen Unterkunft teilt sie sich auf ihrem Flur zwei Toiletten und eine Küche mit 17 Leuten. Vor der Pandemie war das eng, währenddessen ist es manchmal unerträglich. Dann schläft Hamandi bei einer Freundin, um ein bisschen Ruhe zu finden.
Mit den Jahren in Deutschland hat sich die Gesundheit der 31-Jährigen immer mehr verschlechtert. Sie bekommt täglich Anfälle, ihr wird schwindelig, manchmal fällt sie um. Das kommt alles vom Stress, habe ihre Ärztin gesagt.
Hamandis größter Wunsch ist es, einen Job zu finden. Ein Angebot hätte sie, ein Versandhändler aus Krefeld hat ihr bereits zugesagt. Sie könnte dort Pakete einsortieren, in Hamandis Ohren klingt das wie ein Traum. Die Libanesin schreibt immer wieder E-Mails an die Sachbearbeiterin vom Ausländeramt. In der letzten Nachricht erzählt sie über das Jobangebot in Krefeld. In der Betreffzeile hat die 31-Jährige „sad life“geschrieben – trauriges Leben. „Ich könnte mir auch einen illegalen Job suchen.“Doch das will sie nicht. Sollte sie erwischt werden, könnte ihr Leben noch schwieriger werden, als es ohnehin schon ist.
Kein Job, keine Wohnung, kein Ausweg. Wie stark die Pandemie zu diesem Stillstand in Hamandis Leben beiträgt, ist schwer zu sagen. Dass sie unter dem Lockdown schwer leidet, liegt aber auf der Hand. Die 31-Jährige richtet alles nach ihren drei Söhnen aus. Sie sind auf dem Hintergrundbild ihres Handys zu sehen, drei lächelnde Jungs. Von ihrem Vater hat sich Hamandi schnell nach der Ankunft in Deutschland getrennt, nun hat er die Kinder. Er lässt nicht zu, dass sie bei Hamandi in der Flüchtlingsunterkunft übernachten. In den Wintermonaten hat sie ihre Söhne seltener gesehen als im Sommer – draußen war es kalt, drinnen war die Angst von einer Infektion zu groß.
Wie kommt man in einem Land an, wenn dort keiner einen begrüßt, auf einen Kaffee einlädt, die Tür aufmacht? Die Lebensgeschichten der drei Einwanderer zeigen, wie schwierig das sein kann.
Die Libanesin hat beschlossen, für ihre Söhne zu leben. „Deutschland braucht mich nicht. Meinen ExMann auch nicht. Aber es braucht meine Kinder.“Neulich war der 14-jährige Sohn auf einem Geburtstag eingeladen, darauf ist Hamandi besonders stolz. Denn das Geburtstagskind kam aus Deutschland. Die Söhne sind Teil der Gesellschaft geworden, ihre Mutter hat es fast aufgegeben.
Die junge Mutter aus Bulgarien hat kurz nach dem ersten Telefonat für diesen Artikel den Durchbruch geschafft. Nach 150 Bewerbungen hat sie endlich einen Job gefunden. Die Probezeit ist vorbei, sie hat ihren Chef überzeugt, und er gibt ihr eine Chance.
Aso Majeed lernt weiter. Wenn die Pandemie vorbei ist, kann er wieder Menschen treffen. „Es muss einen Ort geben zwischen zwei Menschen“, sagt er. „Das kann die Universität sein, der Arbeitsort, die Schule der Kinder.“An einem dieser Orte hofft er, seinen ersten deutschen Freund finden.