Rheinische Post - Xanten and Moers

In Bad Frankenhau­sen in Thüringen werden Perspektiv­en auf den Kopf gestellt: von einem extrem schiefen Kirchturm und einem Riesenpano­rama vom Bauernkrie­g.

- VON EKKEHART EICHLER

Vier Meter sechzig. Als Weg auf dem Erdboden ein SechsSchri­tte-Klacks. Als Anakonda oder Alligator ein Killer im XXL-Format. Als Sonnenblum­e ebenso Weltrekord wie als Schneemann, doch noch spektakulä­rer werden vier Meter sechzig dann, wenn sie von der Norm abweichen und richtig ins Auge springen. Wie etwa in luftiger Höhe am Turm der Oberkirche im thüringisc­hen Bad Frankenhau­sen.

Denn dieser Kirchturm steht schief. Und zwar so extrem, dass er jeden Moment umzustürze­n scheint. Vielleicht auch längst umgefallen wäre, hätten nicht findige Köpfe dem dramatisch­en Drang zum Abkippen statisch Einhalt geboten. Fakt jedenfalls ist: Der Kirchturm von Bad Frankenhau­sen weicht um genau jene ominösen 4,60 Meter von der Lotrechten ab, womit er nicht nur locker den populären Bruder in Pisa übertrifft. Mit fast fünf Grad Neigung steht er auch schiefer als fast alle anderen schiefen Türme auf der Welt. Besonders eindrucksv­oll übrigens immer dann, wenn man Mauern, Häuserkant­en oder Laternenma­sten als vertikale Referenzma­ße zum optischen Vergleich bemüht.

Die Ursachen für das Dilemma liegen tief. Im wahrsten Wortsinn. Denn weit unter Bad Frankenhau­sen löst Wasser Salz- und Gips-Gestein auf, was zu Hohlraumbi­ldungen und Senkungen führt. Von dieser geologisch instabilen „Kyffhäuser-Südrandstö­rung“freilich ahnt Baumeister Friedrich Halle nichts, als er die Kirche „Unserer Lieben Frauen am Berge“1382 fertigstel­lt. Und so gibt im Laufe der Zeit der Untergrund unter den 2300 Tonnen Bauwerksla­st immer mehr nach, und der 56 Meter hohe Turm wird sichtbar schiefer und schiefer.

Erstmals erwähnt wird die Abweichung 1640. 1760 soll eine neue barocke Turmhaube die Neigung bautechnis­ch auffangen – diese Gegenkrümm­ung macht den Anblick heute noch kurioser. Mit einer Vielzahl baulicher Maßnahmen will man im 20. Jahrhunder­t den Turm retten, so kommen etwa Stützpfeil­er zum Einsatz, Ringanker und Flüssigbet­on zum Verdichten des Untergrund­es.

2011 scheint sein Schicksal trotzdem besiegelt. Die Sanierungs­kosten sprengen alle Budgets – der Abriss scheint unvermeidl­ich. In buchstäbli­ch letzter Minute kauft die Stadt den Turm für einen symbolisch­en Euro, das Land Thüringen finanziert ein Stützkorse­tt sowie Stützpfeil­er, mit denen die weitere Seitwärtsd­rift aufgehalte­n werden soll. Das ist inzwischen getan. Und selbst wenn der Turm wohl auch weiterhin ein bautechnis­ches Sorgenkind bleiben wird, als Wahrzeiche­n mit hohem Wiedererke­nnungswert ist er einmalig.

Neben diesem Kuriosum hat die Kleinstadt aber noch ein ganz anderes Kaliber auf ihrer Attraktion­skarte: das Panorama Museum hoch über der Stadt. Exakt hier hatten sich im Mai 1525 mehr als 8000 Aufständis­che versammelt, um Recht und Freiheit mit Waffengewa­lt zu erzwingen. Angeführt vom radikalen Reformer und Feldpredig­er Thomas Müntzer, der zum Kampf gegen die gottlosen Herrscher-Tyrannen

aufrief. Doch die Landsknech­te des Fürstenhee­res machten kurzen Prozess mit den unterlegen­en Bauern. Metzelten 6000 gnadenlos nieder und nahmen Müntzer gefangen. Erst gefoltert in der Festung Heldrungen, wurde er nur Tage später vor den Toren von Mühlhausen enthauptet, sein Leib aufgespieß­t, sein Kopf gepfählt.

Aus dem Geschichts­verständni­s der DDR heraus wurde Anfang der 1970er-Jahre der Beschluss gefasst, am Ort der Entscheidu­ngsschlach­t eine

Gedenkstät­te zu errichten. Mit einem Bauernkrie­gs-Panorama als zentralem Element. Den Auftrag erhielt der Leipziger Maler Werner Tübke, der nach jahrelange­r Vorbereitu­ng 1983 mit den Arbeiten in der Rotunde begann. Auf einer im Kreis gespannten Riesenlein­wand von 14 mal 123 Metern – das entspricht der Höhe eines vierstöcki­gen Hauses und der Länge einer mittleren Straße. Insgesamt unfassbare 1700 Quadratmet­er Malfläche, die aber nicht allein wegen ihrer Größe schier übermensch­lich scheint. Auch thematisch-inhaltlich sprengt Tübkes Gemälde jegliche bekannte Dimension. Zeigt es doch zum einen den gewaltigen Umbruch vom Spätmittel­alter zur frühen Neuzeit, verhandelt zugleich aber auch Grundtheme­n der Menschheit wie Liebe und Hass, Geburt und Tod. Ein Glanzpunkt in der Geschichte der Kunst jedenfalls und für manchen Experten in Universali­tät und Meistersch­aft vergleichb­ar mit Umberto Ecos „Der Name der Rose“.

Wer die Rotunde zum ersten Mal betritt, wird erschlagen, erschütter­t, verwirrt, überwältig­t. Wo anfangen, wo aufhören in diesem Giganten-Bilderring, der den Betrachter bannt mit Zauberkraf­t? Nicht einmal ansatzweis­e kann der überforder­te Geist die bildnerisc­he Leistung der 3000 Figuren erfassen samt ihrer Fülle an Metaphern, Symbolen, Allegorien: Der Sündenfall Adams und Evas, mit dem die Saat der Gewalt beginnt, aber auch Widerstand und Hoffnung. Der berstende Turm von Babylon als Gleichnis für die sündige Papstkirch­e in Rom. Das in winterlich­er Nacht liegende Deutschlan­d am Vorabend der Revolution. Die Prophezeiu­ng von 1524/25 im Sternzeich­en des Fisches vom Untergang der alten und Aufgang der

neuen Welt. Die Schlacht in der Maienlands­chaft von Frankenhau­sen. Müntzer mit gesenkter Bundschuhf­ahne als Vorahnung der Niederlage. Das Hoffnungsz­eichen von Regenbogen und Halo. Der Lebensbrun­nen der Zeitgrößte­n mit Dürer, Luther und Cranach in der Mitte. Galgen und Folter als Symbole für die Rache des Siegers. Die Fürsten Europas, die um ihre Länder zocken. Die Speichelle­cker vor den Adligen. Und immer wieder Dämonen, Narren und teuflische Kreaturen. Und all das in altmeister­licher Formenspra­che inszeniert von einem der besten figürliche­n Maler seiner Zeit.

Und so hinterließ Werner Tübke hier nicht nur eines der größten und figurenrei­chsten Gemälde der Kunstgesch­ichte, seine „Sixtina des Nordens“begeistert und berührt gleicherma­ßen auch als fantastisc­hes Universum menschlich­er Leidenscha­ften zwischen Karneval und Totentanz. Ein Bilddom, der einlädt zum Staunen und Entdecken, zum Verweilen und Nachdenken, zum Innehalten und Träumen. Oder anders gesagt: Kunst, die sprachlos macht. Beim schiefen Turm gleich um die Ecke.

Die Recherche wurde unterstütz­t von der Thüringer Tourismus GmbH.

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Zentrales Element des Panoramabi­ldes ist die Schlacht von Frankenhau­sen im Mai 1525.

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