Rheinische Post - Xanten and Moers
Gemeinsam gegen die Sucht
Christa Kalisch (70) ist seit mehr als 40 Jahren alkoholkrank, hat aber seit 22 Jahren keinen Tropfen mehr angerührt. Geholfen hat ihr die Selbsthilfegruppe, die sie vor zehn Jahren mit ihrem Mann gegründet hat.
XANTEN „Ich bin alkoholkrank“: Christa Kalisch sagt „bin“, nicht „war“. Obwohl sie seit 22 Jahren keinen Tropfen mehr angerührt hat. Aber die 70-Jährige weiß, dass man schnell wieder rückfällig werden kann, wenn man in Situationen kommt, in denen man früher zum Alkohol gegriffen hat. Um sich zu betäuben, Probleme wegzutrinken.
Und sie macht sich Sorgen. Nicht um sich selbst. „Ich habe kein Interesse mehr am Alkohol.“Sondern um die Menschen, die jetzt, in Corona-Zeiten, wieder öfter und mehr trinken und eigentlich Hilfe bräuchten. Die Menschen bräuchten, die ihnen zuhören, mit denen sie über ihre Sucht sprechen können. Wie die Frauen und Männer beispielsweise, die regelmäßig freitags die Treffen der Selbsthilfegruppe „Hoffnung“für Alpen, Sonsbeck und Xanten besuchen, dies aber wegen der Pandemie seit November nicht dürfen.
Vor zehn Jahren hat Christa Kalisch mit ihrem im vergangenen Jahr verstorbenen Mann Norbert die Selbsthilfegruppe gegründet. Die zierliche Dame, die auf eine Geh-Hilfe angewiesen und seit ihrem 48. Lebensjahr Rentnerin ist, spricht offen über ihre eigene Sucht. Über den Alkohol, der sie kaputt gemacht, ihr Lebensqualität geraubt hat. Dem sie zu es „verdanken“hat, dass sie heute auf einem Auge blind ist und auf dem anderen nur noch fünf Prozent Sehstärke besitzt. Denn die Vize-Vorsitzende von „Hoffnung“ist seit ihrer Jugend Diabetikerin. Sie hätte wegen eines grauen Stars eigentlich regelmäßig ihre Augentropfen nehmen müssen. Das hat sie aber oft vergessen, weil sie getrunken, viel getrunken hat.
Mit Mitte 20 habe sie angefangen, abends Cognac zu trinken, um besser schlafen zu können. „Und es wurde immer mehr. Ich war schnell bei einer halben Flasche am Tag“, erinnert sie sich. Immer wieder sei sie nachts aufgestanden, um sich noch ein Glas einzuschenken, danach ein paar Stunden zu schlafen und erneut zum Cognac zu greifen. Am 8. Januar 1999 war sie am Ende, hat versucht, sich das Leben zu nehmen. „Mein Mann hat mich zu früh gefunden“, erzählt sie.
Christa Kalisch kam ins Krankenhaus und anschließend fünf Wochen in eine psychiatrische Klinik in Kalkar. „Vier Wochen davon war ich auf der geschlossenen Abteilung. Das hat mir gut getan.“Als sie entlassen wurde, habe sie sich selber gefragt: „Was möchtest du: Weiter trinken? Oder lässt du’s sein?“Sie habe eine Nacht drüber geschlafen. Am nächsten Tag habe ihr Entschluss festgestanden: „Nein, ich will keinen Alkohol mehr.“
Sie schaffte es, trocken zu werden und es auch zu bleiben. Sie hat sich geschworen, fortan regelmäßig und ihr Leben lang eine Sucht-Selbsthilfegruppe zu besuchen. Sie ist zu einigen gegangen, aber da kam sie nicht zurecht. „Ich lass’ mir nicht gerne sagen, was ich machen darf und was nicht.“Das aber hätten sie in den verschiedenen Gruppen immer versucht. Das laufe bei „Hoffnung“anders: „Wir sind wie eine Familie, in der jederzeit weitere Menschen willkommen sind“, sagt sie.
Zustimmendes Nicken von Daniel: Der 22-jährige ist jüngstes Mitglied der Sucht-Selbsthilfegruppe. Nach einer Entgiftung in einer Klinik in Duisburg und einer Therapie im Sauerland, die er nach acht Wochen abgebrochen hat, machte sich der junge Xantener an einem Freitag auf den Weg zur Marsstraße 70, um Hilfe zu bekommen. Er ist spielsüchtig und hat ein Alkohol-Problem.
„Mit zwölf Jahren Energy-Drinks und Nacht für Nacht Computer-Spiele, mit 13 Zigaretten, mit 18
Glücksspiele an Automaten, mit 19 Wodka-Cola in guten Mengen“, so beschreibt er in knappen Worten seine Sucht-Karriere. Er sei oft in
Spielhallen gegangen, hat an manchen Tagen bis zu zwölf Stunden die
TR5-Geräte in einer Spielhalle im Xantener Gewerbegebiet gefüttert.
Eine der Spielhallen sei zu seinem „zweiten Zuhause“geworden, so Daniel über seine „kostspielige Sucht“. Er habe auch schon mal
400 Euro in einer Stunde „verbraten“. In der Summe dürfte es 15.000 bis 20.000 Euro sein, die er bisher in Automaten gesteckt hat, rechnet er hoch. Natürlich habe er auch ab und an mal gewonnen, meist nur kleinere Beträge. Einmal sei er mit 1100 Euro in der Tasche aus der Spielhalle gegangen, das sei für ihn ein großes Glücksgefühl gewesen.
„Für mich ist Corona aus einem Grund gut: Da sind die Spielhallen geschlossen“, sagt er und schaut Christa Kalisch an. Er nennt sie seine Pflege-Oma. „Sie ist immer da, wenn ich reden will.“Sie ist deswegen immer da, weil Daniel seit Ende Juni des vorigen Jahres bei ihr lebt: Die beiden haben eine Wohngemeinschaft gegründet, sprechen von einer Win-win-Situation: Er war auf Wohnungssuche, sie brauchte Hilfe bei der Bewältigung des Alltags.
Denn sie hat einige körperliche Gebrechen, die sie auch auf ihren exzessiven Alkohol-Missbrauch zurückführt. Daniel kümmert sich um den Einkauf, kocht für beide, fährt Christa Kalisch zum Arzt. „Er ist mir eine große Hilfe“, sagt die 70-Jährige über ihren Mitbewohner. „Sie für mich auch“, fügt der 22-Jährige hinzu. Die beiden verstehen sich richtig gut, die Chemie stimmt zwischen ihnen.
Christa Kalisch, die zusammen mit Heike Rauch (Anfang 50) die Sucht-Selbsthilfegruppe „Hoffnung“leitet, glaubt nicht, dass es vor dem Herbst wieder möglich sein wird, sich freitags an der Marsstraße zu treffen. Um die 12 bis 14 Frauen und Männer kommen sonst regelmäßig dorthin. Daniel ist mit 22 Jahren der Jüngste, die Älteste ist 78 Jahre alt. Sie macht sich keine Sorgen, dass einer von ihnen jetzt in Corona-Zeiten rückfällig wird. „Sie sind alle stark und gefestigt.“Ihrem Mitbewohner Daniel wünscht sie, dass er weiter durchhält. Dass er mal eine Therapie macht, eine um die Seele zu behandeln. Und eine gegen die Sucht.