Rheinische Post - Xanten and Moers
„Ich hoffe, dass für uns in der zweiten Hälfte 2021 wieder die Sonne herauskommt“
Die Kanaren gehören zu den beliebtesten Urlaubszielen der Deutschen. Doch durch Corona ist der Tourismus praktisch zum Erliegen gekommen. Die Inseln suchen Wege aus der Krise.
PUERTO RICO Glasklar ist der Klang der Wellen, die an Puerto Ricos Strand schlagen. Die Schreie der Möwen über der Bucht, der Ruf der Papageien im Park dahinter, das Rauschen der Palmen im Wind – jeder Klang deutlich wie im Tonstudio. Zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhundert sind diese Geräusche tagsüber nicht mehr vom Lärm Tausender Badegäste überlagert, die sich in der Bucht im Südwesten Gran Canarias dicht an dicht am Meer vergnügen. Seit der Corona-Pandemie ist alles anders.
„Es geht uns schlecht. Die Corona-Krise hat unsere Einkünfte fast zum Stillstand gebracht“, sagt José Rodríguez. Er steht verloren neben seinem Taxi am Ende des Parks. Normalerweise geht es hier rund, heute ist er der einzige Fahrer am Stand. „Wir arbeiten nur noch schichtweise alle vier Tage. Wir müssen unser Leben einschränken, Kosten reduzieren, zu Hause und in der Firma.“Von gut 170 Taxifahrern arbeiten nur noch Selbstständige wie Rodríguez. Fast alle anderen, sagt er, seien in Kurzarbeit, Erte heißt das in Spanien. Allein im Dezember 2020 beantragten weitere 20.000 Arbeitskräfte auf den Kanaren Erte.
Puerto Rico ist die größte Feriensiedlung im äußersten Südwesten Gran Canarias. Der Ort mit seinen 20.000 Betten ist ein Produkt des Massentourismus. Jetzt sind sämtliche Lokale geschlossen, die den Strand in einem weiten Halbrund einrahmen. Auch José Rodríguez fehlt die Kundschaft. Wie vielen Kollegen reicht ihm die Unterstützung des Staates nicht: „Die hatten ein Jahr Zeit, um Lösungen zu finden. Aber nichts ist passiert. Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, sagt er.
Seit Beginn der Pandemie ist der Tourismus auf den Kanaren praktisch zum Erliegen gekommen. Dabei hängen drei von vier Arbeitsplätze an dieser Branche. Knapp
14 Millionen Touristen kamen 2019 auf die Atlantikinseln, 2020 waren es noch 3,8 Millionen ausländische Besucher. Die Kanaren, allen voran Teneriffa und Gran Canaria, ächzen unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie. An den Wochenenden formiert sich oft ein Demonstrationszug in Puerto Rico aus Menschen, die früher ein gutes Auskommen hatten.
Wenn dieser Zug durch den Ort zieht, werden die Auswirkungen der Pandemie auf das lokale Gewerbe offensichtlich. Das Einkaufszentrum im Südwesten Gran Canarias ist seit Monaten geschlossen. Die nagelneue Mall gleich nebenan mit denselben Modeketten wie in Hamburg oder München sollte den Aufbruch ins 21. Jahrhundert einläuten. Stattdessen vergeben die verwaisten Geschäfte nun Einkaufsgutscheine für die lokale Bevölkerung, die dafür in langen Schlangen ansteht. Nachts bleiben viele Ferienkomplexe dunkel. Das sieht in den noch viel größeren Tourismuszentren im Inselsüden wie Playa del Inglés, Maspalomas und Meloneras mit über
80.000 Betten nicht anders aus. Auch dort sind die Strände leer. In den berühmten Dünen verlieren sich einzelne Spaziergänger wie Versprengte in der Wüste.
„Ich schätze, siebzig Prozent der Hotels hier auf den Kanaren sind geschlossen“, sagt Nicolás Villalobos. Der 46-Jährige ist nicht nur Generaldirektor der grankanarischen Hotelkette Cordial mit einem guten Dutzend Häusern. Er sitzt auch im Vorstand des Hotelverbandes FEHT. Fünfzehn bis zwanzig Prozent betrage die Auslastung zurzeit. Viele Hotels würden das nicht überleben. „Wir mussten vor einem Jahr schließen. Mitte Juli glaubten wir, dass wir doch einen vernünftigen Sommer haben würden. Aber dann kam die zweite Welle. Die hat alles platt gemacht,“sagt Villalobos. Der Hotelverband FEHT hat mit der Inselregierung über die Verlängerung der Kurzarbeit verhandelt, Steueraufschub bei den Gemeinden beantragt, Kosten in den Betrieben reduziert. Zunächst gab es keinerlei staatliche Unterstützung während der Zeit des Lockdowns. Erst kürzlich hat die Regierung ein Hilfspaket von 400 Millionen Euro aufgelegt – ein Jahr nach Beginn der Pandemie.
35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden direkt im Fremdenverkehr erwirtschaftet, inklusive des Umfeldes sogar 80 Prozent der Gesamtleistung der Kanaren. Der Arbeitsmarkt hängt zu 40 Prozent vom Tourismus ab. 90 Prozent der Einnahmen daraus gingen 2020 verloren, etwa zehn Milliarden Euro. Die Zahl der Urlauber sank um 75 Prozent. Drei Viertel der Flugverbindungen
nach Gran Canaria aus den wichtigsten Quellmärkten, Großbritannien und Deutschland, wurden gestrichen. Und dann sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober den verhängnisvollen Satz: „Bitte bleiben Sie zu Hause“. Für viele Canarios klang das wie ein Todesurteil.
„Ich verstehe das, es ist die Verantwortung ihres Amtes. Da muss Frau Merkel in dieser Zeit vorsichtiges Verhalten von den Bürgern fordern,“sagt Antonio Morales. Er hat das höchste politische Amt Gran Canarias. „Andererseits denke ich auch, dass Verreisen auf die Kanaren für viele Deutsche ein Bedürfnis ist, physisch und psychisch. Das milde Klima hier tut der Gesundheit in kalten Zeiten gut. Daher finden viele Menschen, auch wenn es ein gewisses Risiko mit sich bringt, dass es sich für sie trotzdem lohnt.“Der Inselpräsident empfängt in seinem Büro in der Hauptstadt Las Palmas. Morales ist ein Mann leiser Worte, doch seine Sorgen sind unüberhörbar: „Aber ich sehe auch, dass die Situation in Deutschland im Moment deutlich schlechter ist als hier. Es ist zurzeit risikoreicher, in Deutschland zu bleiben, als zu uns zu kommen“, sagt er. Der Sieben-Tage-Inzidenzwert der Kanarischen Inseln war Anfang März der niedrigste Spaniens und lag bei 52. Gran Canaria lag monatelang unter 50 Infizierten pro 100.000 Einwohnern, Anfang März bei 57. Im Augenblick steigen die Zahlen wieder, aber es werde alles getan, um Einwohner und Besucher zu schützen, so Morales. „Wir führen PCR- und Antigentests durch, schaffen geschützte Räume für gefährdete Personen ebenso wie für Infizierte auf der Insel. Außerdem gibt es eine enorme Professionalität im Tourismussektor. Wir tun alles für die Sicherheit“, sagt der Inselchef.
Vor allem die abgeschiedene Lage des Archipels, das milde Klima, das Leben im Freien spiele den Kanaren in die Karten, sagt Hoteldirektor Villalobos. Hätte die Politik schneller agiert, wäre das Virus sogar ganz fern geblieben. „Wir sind Inseln. Das
Virus bewegt sich mit den Menschen, und hier sind wir isoliert. Wir können alle Ankommenden kontrollieren. Hätten wir es vom ersten Tag der Pandemie an gemacht, wir hätten nie einen Fall gehabt. Deswegen ist es jetzt so wichtig, dass alle Urlauber mit einem negativen Test kommen.“Der Manager sieht aber auch eine Chance, in Pandemie-Zeiten über den Weg nachzudenken, wie die touristische Zukunft der Kanaren aussehen könnte. „Kurzfristig bleiben die Bettenburgen, wo Menschen dicht zusammen sind, mit viel Animation, riesigen Buffets, all inclusive, natürlich bestehen.“Mittelfristig aber würden Angebote von den heutigen Bedürfnissen der Konsumenten nach Distanz profitieren. Das seien Bungalowanlagen und Ferienwohnungen, so Villalobos.
Das klingt wie eine späte Erkenntnis. Erst seitdem enger Kontakt vieler Menschen zum Inbegriff der Gefahr für Leib und Leben geworden ist, wird auch der Massentourismus infrage gestellt. Dagegen hält Morales eine Umstrukturierung des Fremdenverkehrs für schwierig: „Das geht nicht von einem auf den anderen Tag,“sagt er. Eine Chance Gran Canarias sieht Präsident Morales eher in neuen Geschäftsfeldern, die die Abhängigkeit vom Tourismus reduzieren könnten. Denn darin liege die Gefahr: „Wir müssen unsere Wirtschaft diversifizieren. Es gibt Alternativen. Die Landwirtschaft kann ein fundamentales Element sein. Wir arbeiten an Konzepten, die Selbstversorgung mit Lebensmitteln voranzutreiben, ein Sektor, den wir durch den Tourismus verloren haben. Dann natürlich erneuerbare Energien, Windkraft. Und im Moment wird die Forschung auf den
Inseln im Bereich der Algenzucht vorangetrieben für medizinische und kosmetische Zwecke. Die Kanaren haben sehr viele wirtschaftliche Möglichkeiten.“
Die Landwirtschaft wieder erstarken zu lassen, ist nicht ohne Ironie. Bis in die 1990er-Jahre waren weite Teile des Inselsüdens von Tomatenplantagen bedeckt, von Bananenpflanzungen, Orangenhainen. Erst der Fremdenverkehr ließ die Bauern abwandern in die Urlaubszentren, um dort als Kellner oder Taxifahrer zu arbeiten. Die terrassierten Felder verfielen, die Wasserversorgung der Golfplätze war nun rentabler als die landwirtschaftlicher Flächen. Wirklich innovativ ist ein Sektor, der bisher kaum im Fokus war, auf den Kanaren aber geradezu idealtypisch zeitgemäße Berufsausübung im Corona-Lockdown erlaubt: Arbeiten von unterwegs und im Homeoffice – die Spanier nennen das Teletrabajo, also die Arbeit aus der Ferne. Inselpräsident Morales ist optimistisch: „Es gibt viele Leute überall in Europa, für die es attraktiv ist, an einem sicheren Ort zu arbeiten, in einem guten Klima, in dem man auch mal am Strand Pause machen kann, spazierengehen, Wandern, Freizeit in der Natur. Das ist hier absolut miteinander vereinbar – während es anderswo kalt ist und die Infektionsgefahr deutlich größer ist.“Angesprochen werden damit junge, flexible, unabhängige Freiberufler – IT-Experten, freie Journalisten, Fachleute der New Economy, die von jedem Punkt der Welt aus ihrem Beruf nachgehen können. 2020 wurden in Las Palmas dreißig Start-ups für die digitalen Nomaden des 21. Jahrhunderts gegründet, die meisten im Geschäftsviertel Triana. Das größte, The House, hat Co-Working-Plätze mit superschnellem Internet für sechzig Leute. Hunderte digitale Nomaden, zwei Drittel von ihnen unter vierzig Jahren, arbeiten so in der Hauptstadt und genießen gleichzeitig ein Leben auf westeuropäischem Niveau mit karibischem Flair. Gerade erschien dazu eine Befragung im Condé Nast Traveller, dem englischen Magazin für individuelles Reisen. Darin liegt Las Palmas weltweit unter den Top Ten-Zielen für digitale Nomaden.
Die Zeit wird zeigen, ob es den Inseln gelingt, diese Initiativen über die Pandemie zu retten. Oder ob sie nach erfolgreichen Impfkampagnen wieder in den alten Trott verfallen. Dass Corona zur Schockstarre geführt hat, lässt sich dennoch nicht beobachten. Unübersehbar ist, dass viele der alten Hotelkomplexe gerade gründlich renoviert werden. Es entstehen sogar während der Pandemie Ferienwohnungsanlagen, in denen es kein all-inclusive mehr gibt. Und auch das Jahrzehnte alte Shoppingcenter in Puerto Rico wird von Grund auf saniert – alles in der Hoffnung, dass es bald wieder aufwärtsgeht mit dem Tourismus auf Gran Canaria. Nicolás Villalobos, der Hotelmanager, fasst den Herzenswunsch der Canarios in einem Satz zusammen: „Ich hoffe, dass für uns in der zweiten Hälfte 2021 wieder die Sonne herauskommt!“
Nicolás Villalobos
Hotelmanager