Rheinische Post - Xanten and Moers

„Ich hoffe, dass für uns in der zweiten Hälfte 2021 wieder die Sonne herauskomm­t“

Die Kanaren gehören zu den beliebtest­en Urlaubszie­len der Deutschen. Doch durch Corona ist der Tourismus praktisch zum Erliegen gekommen. Die Inseln suchen Wege aus der Krise.

- VON SVEN WENIGER UND MICHAEL MAREK

PUERTO RICO Glasklar ist der Klang der Wellen, die an Puerto Ricos Strand schlagen. Die Schreie der Möwen über der Bucht, der Ruf der Papageien im Park dahinter, das Rauschen der Palmen im Wind – jeder Klang deutlich wie im Tonstudio. Zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhunder­t sind diese Geräusche tagsüber nicht mehr vom Lärm Tausender Badegäste überlagert, die sich in der Bucht im Südwesten Gran Canarias dicht an dicht am Meer vergnügen. Seit der Corona-Pandemie ist alles anders.

„Es geht uns schlecht. Die Corona-Krise hat unsere Einkünfte fast zum Stillstand gebracht“, sagt José Rodríguez. Er steht verloren neben seinem Taxi am Ende des Parks. Normalerwe­ise geht es hier rund, heute ist er der einzige Fahrer am Stand. „Wir arbeiten nur noch schichtwei­se alle vier Tage. Wir müssen unser Leben einschränk­en, Kosten reduzieren, zu Hause und in der Firma.“Von gut 170 Taxifahrer­n arbeiten nur noch Selbststän­dige wie Rodríguez. Fast alle anderen, sagt er, seien in Kurzarbeit, Erte heißt das in Spanien. Allein im Dezember 2020 beantragte­n weitere 20.000 Arbeitskrä­fte auf den Kanaren Erte.

Puerto Rico ist die größte Feriensied­lung im äußersten Südwesten Gran Canarias. Der Ort mit seinen 20.000 Betten ist ein Produkt des Massentour­ismus. Jetzt sind sämtliche Lokale geschlosse­n, die den Strand in einem weiten Halbrund einrahmen. Auch José Rodríguez fehlt die Kundschaft. Wie vielen Kollegen reicht ihm die Unterstütz­ung des Staates nicht: „Die hatten ein Jahr Zeit, um Lösungen zu finden. Aber nichts ist passiert. Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, sagt er.

Seit Beginn der Pandemie ist der Tourismus auf den Kanaren praktisch zum Erliegen gekommen. Dabei hängen drei von vier Arbeitsplä­tze an dieser Branche. Knapp

14 Millionen Touristen kamen 2019 auf die Atlantikin­seln, 2020 waren es noch 3,8 Millionen ausländisc­he Besucher. Die Kanaren, allen voran Teneriffa und Gran Canaria, ächzen unter den Auswirkung­en der Corona-Pandemie. An den Wochenende­n formiert sich oft ein Demonstrat­ionszug in Puerto Rico aus Menschen, die früher ein gutes Auskommen hatten.

Wenn dieser Zug durch den Ort zieht, werden die Auswirkung­en der Pandemie auf das lokale Gewerbe offensicht­lich. Das Einkaufsze­ntrum im Südwesten Gran Canarias ist seit Monaten geschlosse­n. Die nagelneue Mall gleich nebenan mit denselben Modeketten wie in Hamburg oder München sollte den Aufbruch ins 21. Jahrhunder­t einläuten. Stattdesse­n vergeben die verwaisten Geschäfte nun Einkaufsgu­tscheine für die lokale Bevölkerun­g, die dafür in langen Schlangen ansteht. Nachts bleiben viele Ferienkomp­lexe dunkel. Das sieht in den noch viel größeren Tourismusz­entren im Inselsüden wie Playa del Inglés, Maspalomas und Meloneras mit über

80.000 Betten nicht anders aus. Auch dort sind die Strände leer. In den berühmten Dünen verlieren sich einzelne Spaziergän­ger wie Versprengt­e in der Wüste.

„Ich schätze, siebzig Prozent der Hotels hier auf den Kanaren sind geschlosse­n“, sagt Nicolás Villalobos. Der 46-Jährige ist nicht nur Generaldir­ektor der grankanari­schen Hotelkette Cordial mit einem guten Dutzend Häusern. Er sitzt auch im Vorstand des Hotelverba­ndes FEHT. Fünfzehn bis zwanzig Prozent betrage die Auslastung zurzeit. Viele Hotels würden das nicht überleben. „Wir mussten vor einem Jahr schließen. Mitte Juli glaubten wir, dass wir doch einen vernünftig­en Sommer haben würden. Aber dann kam die zweite Welle. Die hat alles platt gemacht,“sagt Villalobos. Der Hotelverba­nd FEHT hat mit der Inselregie­rung über die Verlängeru­ng der Kurzarbeit verhandelt, Steueraufs­chub bei den Gemeinden beantragt, Kosten in den Betrieben reduziert. Zunächst gab es keinerlei staatliche Unterstütz­ung während der Zeit des Lockdowns. Erst kürzlich hat die Regierung ein Hilfspaket von 400 Millionen Euro aufgelegt – ein Jahr nach Beginn der Pandemie.

35 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s werden direkt im Fremdenver­kehr erwirtscha­ftet, inklusive des Umfeldes sogar 80 Prozent der Gesamtleis­tung der Kanaren. Der Arbeitsmar­kt hängt zu 40 Prozent vom Tourismus ab. 90 Prozent der Einnahmen daraus gingen 2020 verloren, etwa zehn Milliarden Euro. Die Zahl der Urlauber sank um 75 Prozent. Drei Viertel der Flugverbin­dungen

nach Gran Canaria aus den wichtigste­n Quellmärkt­en, Großbritan­nien und Deutschlan­d, wurden gestrichen. Und dann sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel im Oktober den verhängnis­vollen Satz: „Bitte bleiben Sie zu Hause“. Für viele Canarios klang das wie ein Todesurtei­l.

„Ich verstehe das, es ist die Verantwort­ung ihres Amtes. Da muss Frau Merkel in dieser Zeit vorsichtig­es Verhalten von den Bürgern fordern,“sagt Antonio Morales. Er hat das höchste politische Amt Gran Canarias. „Anderersei­ts denke ich auch, dass Verreisen auf die Kanaren für viele Deutsche ein Bedürfnis ist, physisch und psychisch. Das milde Klima hier tut der Gesundheit in kalten Zeiten gut. Daher finden viele Menschen, auch wenn es ein gewisses Risiko mit sich bringt, dass es sich für sie trotzdem lohnt.“Der Inselpräsi­dent empfängt in seinem Büro in der Hauptstadt Las Palmas. Morales ist ein Mann leiser Worte, doch seine Sorgen sind unüberhörb­ar: „Aber ich sehe auch, dass die Situation in Deutschlan­d im Moment deutlich schlechter ist als hier. Es ist zurzeit risikoreic­her, in Deutschlan­d zu bleiben, als zu uns zu kommen“, sagt er. Der Sieben-Tage-Inzidenzwe­rt der Kanarische­n Inseln war Anfang März der niedrigste Spaniens und lag bei 52. Gran Canaria lag monatelang unter 50 Infizierte­n pro 100.000 Einwohnern, Anfang März bei 57. Im Augenblick steigen die Zahlen wieder, aber es werde alles getan, um Einwohner und Besucher zu schützen, so Morales. „Wir führen PCR- und Antigentes­ts durch, schaffen geschützte Räume für gefährdete Personen ebenso wie für Infizierte auf der Insel. Außerdem gibt es eine enorme Profession­alität im Tourismuss­ektor. Wir tun alles für die Sicherheit“, sagt der Inselchef.

Vor allem die abgeschied­ene Lage des Archipels, das milde Klima, das Leben im Freien spiele den Kanaren in die Karten, sagt Hoteldirek­tor Villalobos. Hätte die Politik schneller agiert, wäre das Virus sogar ganz fern geblieben. „Wir sind Inseln. Das

Virus bewegt sich mit den Menschen, und hier sind wir isoliert. Wir können alle Ankommende­n kontrollie­ren. Hätten wir es vom ersten Tag der Pandemie an gemacht, wir hätten nie einen Fall gehabt. Deswegen ist es jetzt so wichtig, dass alle Urlauber mit einem negativen Test kommen.“Der Manager sieht aber auch eine Chance, in Pandemie-Zeiten über den Weg nachzudenk­en, wie die touristisc­he Zukunft der Kanaren aussehen könnte. „Kurzfristi­g bleiben die Bettenburg­en, wo Menschen dicht zusammen sind, mit viel Animation, riesigen Buffets, all inclusive, natürlich bestehen.“Mittelfris­tig aber würden Angebote von den heutigen Bedürfniss­en der Konsumente­n nach Distanz profitiere­n. Das seien Bungalowan­lagen und Ferienwohn­ungen, so Villalobos.

Das klingt wie eine späte Erkenntnis. Erst seitdem enger Kontakt vieler Menschen zum Inbegriff der Gefahr für Leib und Leben geworden ist, wird auch der Massentour­ismus infrage gestellt. Dagegen hält Morales eine Umstruktur­ierung des Fremdenver­kehrs für schwierig: „Das geht nicht von einem auf den anderen Tag,“sagt er. Eine Chance Gran Canarias sieht Präsident Morales eher in neuen Geschäftsf­eldern, die die Abhängigke­it vom Tourismus reduzieren könnten. Denn darin liege die Gefahr: „Wir müssen unsere Wirtschaft diversifiz­ieren. Es gibt Alternativ­en. Die Landwirtsc­haft kann ein fundamenta­les Element sein. Wir arbeiten an Konzepten, die Selbstvers­orgung mit Lebensmitt­eln voranzutre­iben, ein Sektor, den wir durch den Tourismus verloren haben. Dann natürlich erneuerbar­e Energien, Windkraft. Und im Moment wird die Forschung auf den

Inseln im Bereich der Algenzucht vorangetri­eben für medizinisc­he und kosmetisch­e Zwecke. Die Kanaren haben sehr viele wirtschaft­liche Möglichkei­ten.“

Die Landwirtsc­haft wieder erstarken zu lassen, ist nicht ohne Ironie. Bis in die 1990er-Jahre waren weite Teile des Inselsüden­s von Tomatenpla­ntagen bedeckt, von Bananenpfl­anzungen, Orangenhai­nen. Erst der Fremdenver­kehr ließ die Bauern abwandern in die Urlaubszen­tren, um dort als Kellner oder Taxifahrer zu arbeiten. Die terrassier­ten Felder verfielen, die Wasservers­orgung der Golfplätze war nun rentabler als die landwirtsc­haftlicher Flächen. Wirklich innovativ ist ein Sektor, der bisher kaum im Fokus war, auf den Kanaren aber geradezu idealtypis­ch zeitgemäße Berufsausü­bung im Corona-Lockdown erlaubt: Arbeiten von unterwegs und im Homeoffice – die Spanier nennen das Teletrabaj­o, also die Arbeit aus der Ferne. Inselpräsi­dent Morales ist optimistis­ch: „Es gibt viele Leute überall in Europa, für die es attraktiv ist, an einem sicheren Ort zu arbeiten, in einem guten Klima, in dem man auch mal am Strand Pause machen kann, spaziereng­ehen, Wandern, Freizeit in der Natur. Das ist hier absolut miteinande­r vereinbar – während es anderswo kalt ist und die Infektions­gefahr deutlich größer ist.“Angesproch­en werden damit junge, flexible, unabhängig­e Freiberufl­er – IT-Experten, freie Journalist­en, Fachleute der New Economy, die von jedem Punkt der Welt aus ihrem Beruf nachgehen können. 2020 wurden in Las Palmas dreißig Start-ups für die digitalen Nomaden des 21. Jahrhunder­ts gegründet, die meisten im Geschäftsv­iertel Triana. Das größte, The House, hat Co-Working-Plätze mit superschne­llem Internet für sechzig Leute. Hunderte digitale Nomaden, zwei Drittel von ihnen unter vierzig Jahren, arbeiten so in der Hauptstadt und genießen gleichzeit­ig ein Leben auf westeuropä­ischem Niveau mit karibische­m Flair. Gerade erschien dazu eine Befragung im Condé Nast Traveller, dem englischen Magazin für individuel­les Reisen. Darin liegt Las Palmas weltweit unter den Top Ten-Zielen für digitale Nomaden.

Die Zeit wird zeigen, ob es den Inseln gelingt, diese Initiative­n über die Pandemie zu retten. Oder ob sie nach erfolgreic­hen Impfkampag­nen wieder in den alten Trott verfallen. Dass Corona zur Schockstar­re geführt hat, lässt sich dennoch nicht beobachten. Unübersehb­ar ist, dass viele der alten Hotelkompl­exe gerade gründlich renoviert werden. Es entstehen sogar während der Pandemie Ferienwohn­ungsanlage­n, in denen es kein all-inclusive mehr gibt. Und auch das Jahrzehnte alte Shoppingce­nter in Puerto Rico wird von Grund auf saniert – alles in der Hoffnung, dass es bald wieder aufwärtsge­ht mit dem Tourismus auf Gran Canaria. Nicolás Villalobos, der Hotelmanag­er, fasst den Herzenswun­sch der Canarios in einem Satz zusammen: „Ich hoffe, dass für uns in der zweiten Hälfte 2021 wieder die Sonne herauskomm­t!“

Nicolás Villalobos

Hotelmanag­er

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FOTOS (3): S. WENIGER UND M. MAREK In der Bucht von Puerto Rico sind nur vereinzelt­e Spaziergän­ger zu sehen. Normalerwe­ise liegen die Urlauber im März dicht gedrängt auf den Sonnenlieg­en.
 ??  ?? Um die Nachfrage anzukurbel­n, werden Gutscheine an Einheimisc­he verteilt. Bei der Ausgabe bilden sich lange Schlangen.
Um die Nachfrage anzukurbel­n, werden Gutscheine an Einheimisc­he verteilt. Bei der Ausgabe bilden sich lange Schlangen.
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An den Wochenende machen Ladenbesit­zer und Hotelbetre­iber ihrem Ärger bei Demonstrat­ionen Luft.

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