Rheinische Post - Xanten and Moers

Impfen im Kino

In Philadelph­ia geht es besser voran als erhofft mit der Immunisier­ung. Man kann teils sogar ohne Anmeldung kommen.

- VON FRANK HERRMANN

In Philadelph­ia wird jetzt auch im Kino geimpft. Um genau zu sein, in einem alten Kino, das man vor Jahren zu einer kleinen Konzerthal­le umgebaut hat. „Covid-19 Vaccine“steht überm Eingang des Theatre of Living Arts auf der weißen Leuchttafe­l, wie sie typisch ist für historisch­e amerikanis­che Filmbühnen. Darunter der Hinweis „No walk-ups“, was bedeutet, dass man nicht einfach hereinschn­eien kann, ohne Termin.

Es ist ein Impfzentru­m, das nicht weiter auffällt zwischen den Kneipen und Restaurant­s der South Street, die vor der Pandemie eine lärmerfüll­te Amüsiermei­le war, im März 2020 in die Schockstar­re verfiel und nun langsam zurückkehr­t zur Normalität. Zur Linken, noch immer geschlosse­n, ein Lokal namens Boyler Room, das damit wirbt, 21 Biersorten vom Fass zu zapfen. Zur Rechten, nach langer Pause wieder geöffnet, die Bar Copa Havana, ein paar Schritte weiter die Pizzeria Lorenzo & Sons, vor der die Kunden Schlange stehen. Ein altes Kino, in dem Mediziner einer Universitä­tsklinik das Vakzin von Pfizer/Biontech in die Oberarme von Anwohnern spritzen, gehört wie selbstvers­tändlich dazu.

Überall in Philadelph­ia wird mittlerwei­le geimpft, in Arztpraxen, in Apotheken, in Drogerien der Supermarkt­ketten. Hinzu kommen neun größere Impfzentre­n, etwa in einer Kongressha­lle, einem Ballsaal, einer High School, bei der Heilsarmee, auf einer Feuerwache, in einem German

American Club. Bürgermeis­ter Jim Kenney stellt in Aussicht, dass die Stadt mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern im Mai 150.000 Dosen pro Woche erhält. Momentan sind es 82.000, bestellt von der Bundesregi­erung in Washington.

Nachschubp­robleme? Das war gestern. Allein Pfizer/Biontech und Moderna wollen bis Ende Mai jeweils 200 Millionen Dosen in den USA herstellen, deutlich mehr als zu Jahresbegi­nn angekündig­t. Hinzu kommt, gerade erst zugelassen, das Präparat von Johnson & Johnson. Da nichts davon exportiert wird, haben Kommunen den Kreis derer, denen ein Angebot gemacht wird, schneller erweitert, als es noch vor zwei Monaten möglich schien. In Philadelph­ia ist jeder über 65-Jährige an der Reihe. Außerdem können Menschen mit besonderen Erkrankung­en sowie vom Paketboten bis zur Supermarkt­kassiereri­n alle, die einen essenziell­en Beruf ausüben, einen Termin buchen. In New York liegt die Altersgren­ze neuerdings bei 60, in Texas bei 50, in Indiana bei 45. Anfang Mai soll sie ganz entfallen.

Die South Street jedenfalls hat am St. Patrick’s Day schon wieder ein bisschen an frühere Zeiten erinnert. Vor zwölf Monaten fiel der irische Nationalfe­iertag genau in die Zeit, in der das Land den Schalter umlegte und in den Lockdown wechselte. Die obligatori­sche Parade wurde abgesagt, die Kneipen machten dicht. Auch in diesem Jahr wurde es nichts mit der Parade, doch in den Kneipen saßen schon wieder fröhliche Runden beisammen, unter Plastikpla­nen am Straßenran­d. Was ansonsten auffällt: Praktisch jeder trägt eine Maske, wenn er nicht gerade ein Guinness trinkt. Nicht immer so, dass sie auch die Nase bedeckt, aber im Großen und Ganzen korrekt. Zwar sind Masken im Freien nur dann Pflicht, wenn sich die sechs Fuß (1,80 Meter) Mindestabs­tand nicht einhalten lassen. Doch die meisten sehen es so wie Matthew McCaskill, ein Architekt Mitte vierzig: „Kein Risiko mehr, dazu hat die Stadt schon zu sehr gelitten.“

Philadelph­ia hat es hart getroffen, fast so hart wie New York, im vorigen Frühjahr das amerikanis­che Epizentrum der Epidemie. 124.000 bestätigte Infektione­n, das ist, gemessen an der Einwohnerz­ahl, fast so viel wie im „Big Apple“. Und bisher mehr als 3200 Corona-Tote. Die traurige Bilanz erklärt die allgegenwä­rtige Vorsicht. Auch wenn Symbole in der sportverrü­ckten Stadt zur Aufhellung der Stimmung beitragen. Mit dem Start in die neue Baseballsa­ison am 1. April dürfen die Phillies, die Lokalmatad­oren, wieder vor Publikum spielen. Theoretisc­h darf der Club für jeden zweiten der 43.000 Sitze in seiner Arena ein Ticket verkaufen, wobei abzuwarten bleibt, ob er das Limit ausschöpft. Jedenfalls ist es seit Beginn der Pandemie das erste Heimspiel vor Zuschauern. Der sprichwört­liche Lichtstrei­f am Horizont.

Lillian Roche steht an einem kalten Mittwochmo­rgen um fünf als Erste in einer Warteschla­nge vorm Pennsylvan­ia Convention Center, der größten Kongressha­lle der Stadt, die auch das größte Impfzentru­m ist. Sie will sichergehe­n, dass ihre Mutter Esther den Schuss in den Arm bekommt. Auf der Termin-Website kam sie nicht weiter. Als es dann hieß, man könne sich am Convention Center auch ohne Termin anstellen, reagierte sie sofort: „Mom, die Chance nutzen wir, sagte ich zu meiner Mutter, die lassen wir uns nicht entgehen.“

Die neue Regelung hat damit zu tun, dass die Bewohner ärmerer Stadtteile, meist sind es Afroamerik­aner, bislang zu kurz kamen. In Gegenden, in denen die weiße Mittelschi­cht lebt, im Durchschni­tt besser mit Computern und W-Lan ausgestatt­et, ist die Impfquote viermal höher. Die Statistik trägt dazu bei, Philadelph­ias alte Wunde schwären zu lassen, die Diskrimini­erung schwarzer Amerikaner, die 44 Prozent der Bevölkerun­g bilden. Um das Ungleichge­wicht zumindest etwas zu korrigiere­n, wird die Hälfte der täglich 6000 Impftermin­e im Convention Center nunmehr an Leute aus den benachteil­igten Vierteln vergeben. Ohne Anmeldung, nur unter Nachweis der Adresse.

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FOTO: MATT ROURKE/AP 24-Stunden-Impfzentru­m in der Temple University.
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FOTO: FH Hier nur mit Termin: das Theatre of Living Arts in Philadelph­ia.

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