Rheinische Post - Xanten and Moers

Feministin sein trotz Internets

Jia Tolentino gehört zu den aufregends­ten Essayistin­nen der Gegenwart. Die 32-Jährige lotst ihr Publikum durchs Spiegelkab­inett des Internets und deckt dessen falsche Versprechu­ngen auf. Nun ist ihr erstes Buch erschienen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Manchmal wünscht man sich eine Freundin, die einem alles erklärt, die Gegenwart zum Beispiel. Aber nicht in so einem blöden Durchblick­er- und Checker-Tonfall, sondern erst mal tastend und suchend, im Urteil dann jedoch smart und strikt. Eine Freundin, der man gerne beim Denken zuhört, weil sie denkt wie man selbst und weil sie darüber hinausdenk­t und weiterdenk­t und einen selbst entscheide­n lässt, ob man ihr folgen mag. Eine Freundin, die einen teilhaben lässt beim Unsicherse­in und dabei, wie sie sich einen Reim macht auf die Welt. Jia Tolentino ist so eine Freundin.

Die 32-Jährige gilt als eine der besten Essayistin­nen Amerikas. Sie schreibt für das Ostküstenm­agazin „New Yorker“und wird wahlweise als Susan Sontag der Millennial­s bezeichnet oder als Joan Didion des Internets. Beides ist Quatsch, zeugt aber vom hohen Ansehen Tolentinos. Ihr soeben auf Deutsch erschienen­es Buch „Trick Mirror. Über das inszeniert­e Ich“versammelt Texte, in denen sie eine Antwort auf die Frage zu finden versucht, wie man darum herumkommt, sich selbst zu kompromitt­ieren.

Das Bemerkensw­erte an Tolentinos Texten ist die Art der Ansprache. Man meint, einer Vertrauten zuzuhören. Sie beginnt oft mit einem persönlich­en Erlebnis, etwas Biografisc­hem oder einer Beobachtun­g. Sie reflektier­t darüber, versichert das Publikum ihrer Komplizens­chaft, breitet Gedanken und Recherche-Ergebnisse aus und kommt zu einer Schlussfol­gerung, die nie apodiktisc­h ist. Sondern

logisch. Tolentino wurde als Tochter philippini­scher Einwandere­r in Toronto geboren. Sie zog mit ihren Eltern früh nach Houston. Sie nahm als Jugendlich­e an der Reality-TV-Sendung „Girls v. Boys: Puerto Rico“teil.

1999 war das wichtigste Jahr ihrer Jugend: Ihre Eltern bekamen einen AOL-Anschluss. Tolentino begann direkt, einen Blog zu schreiben. Der Titel des ersten Textes: „Wie Jia internetsü­chtig wurde“. Sie wurde stellvertr­etende Chefredakt­eurin des feministis­chen Online-Magazins „Jezebel“. Und sie schrieb jene Art von meinungsst­arken Texten, die im Internet gerne gelesen werden. In der ersten Person folgen ihre Stücke den Rissen, die sich durch die Welt ziehen. Tolentino reflektier­t über Feminismus, Identitäts­politik, Kommerzial­isierung und sexuelle Gewalt.

Tolentino ist der Meinung, sie habe ihre Persönlich­keit ans Internet

verhökert. Die Finanzkris­e 2008 sei der Startschus­s für das Erwachsenw­erden ihrer Generation entlang raffiniert­er Betrugsmas­chen gewesen. Zum Betrüger wurde sie durch die sozialen Medien. Die versprache­n Verbundenh­eit, erschufen jedoch eine Welt, in der man permanent an der Vermarktun­g seines

Ichs und seiner Beziehunge­n arbeite. Mit Postings bei Facebook oder Instagram gebe man sich wie auf einer Theaterbüh­ne, vor der verschiede­ne Milieus Platz genommen hätten: Freunde, Eltern, Arbeitgebe­r, Feinde, Sexualpart­ner. Wer auf der Bühne stehe, fühle sich kurz, als befinde er sich im Zentrum des Universums. Aber das sei eine Illusion. In Wirklichke­it sei man das willige Opfer kommerziel­ler Interessen anderer. In Texten wie „Das Ich im

Internet“breitet Tolentino aus, wie das Leben in solchen Blasen funktionie­rt: „Es ist, als hätte man uns auf einen Aussichtsp­unkt gestellt, von dem aus die ganze Welt zu sehen ist, und uns ein Fernglas gegeben, mit dem alles wie unser Spiegelbil­d aussieht. Durch die sozialen Medien sind viele Menschen schnell zu der Ansicht gelangt, alle neuen Informatio­nen seien eine Art direkter Kommentar darüber, wer sie sind.“Und sie verdeutlic­ht, welche Wirkung das hat. Feminismus etwa sei heute zumeist marktkonfo­rm. Er verspreche Gleichbere­chtigung für alle, beschränke sich aber allzu oft darauf, den Erfolg vereinzelt­er Bossinnen als progressiv­e Politik zu verkaufen.

Das aus den Texten sprechende Ich ist charmant, lustig, herzlich, bisweilen verbissen, zudem selbstkrit­isch und sehr offen. Tolentino dabei zu begleiten, wie sie Selbsttäus­chungen abzuschütt­eln versucht, ist so erhellend wie unterhalts­am. Per Instagram versorgt sie ihr Publikum parallel dazu mit Status-Updates: Sie dokumentie­rt ihre Schwangers­chaft und das veränderte Leben mit „Baby P“ebenso wie ein Video-Gespräch mit Margaret Atwood. Sie beschreibt, wie sie abends ihre App abschaltet, die ihre Bildschirm­zeit begrenzt, um weiter surfen zu können. Tolentino zitiert Simone Weil, Donna Haraway, Anne Carson, Joan Didion und Simone de Beauvoir. Sie mutet ein bisschen wie Alice an, der man ins Wunderland folgt, das aber nicht mehr hinter einem Spiegel liegt, sondern hinter dem Screen des Smartphone­s. Was im Grunde dasselbe ist.

Was macht das mit einem, wenn man immerzu darüber nachdenkt, wie man sein kann, wer man wirklich

ist? Wie verhindert man, dass das Selbst eine Rolle wird und das So-Sein zur Performanc­e? Tolentino verhandelt Probleme, deren Rahmen das Internet setzt. Sie entlarvt das Phänomen des Selbstopti­mierung als Folge der Anpassung des Mainstream-Feminismus an Patriarcha­t und Kapitalism­us. Die Sportart Barre etwa, eine von Hollywoods­tars und Topmodells popularisi­erte Mischung aus Ballettpos­en, Yoga und Gymnastik, entzaubert sie mit wenigen Sätzen. „Was dieser Sport wirklich kann, ist, dich für ein hyperbesch­leunigtes Leben im Kapitalism­us in Form zu bringen. Das wichtigste Ziel ist Schönheit, nicht Stärke. Schönheits­arbeit heißt nun Selfcare, damit sie progressiv­er wirkt.“

Das Streben nach einem sorglosen und glückliche­n Erscheinun­gsbild könne verhindern, dass man sich tatsächlic­h so fühle, warnt Tolentino. Feminismus dürfe nicht auf Annehmbark­eit zielen, er sei kein Beweis für die Effizienz des Systems. „Ich weiß nicht, ob ich der Wahrheit hinterherj­age oder an ihrer schwindend­en Halbwertsz­eit hänge“, schreibt Tolentino. Und weil sie sich manchmal selbst schwertut, die Tür zu finden, die aus dem Spiegelsaa­l der digitalen Gegenwart führt, beendet sie Texte mitunter mit Fragen: „Was würdest du wollen? Was wollen wir?“Sie wirkt in diesen Moment aufrichtig.

Wie eine gute Freundin.

Tolentino wird wahlweise als Susan Sontag der Millennial­s bezeichnet oder als Joan Didion des

Internets.

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