Rheinische Post - Xanten and Moers
Miserabel, kläglich, stümperhaft
Seit mehr als 30 Jahren lebe ich Europa. Und das sehr gerne – wegen der Vielfalt, der Lebensqualität und der Kreativität. Die Deutschen sind gut informiert, politisch interessiert, und ich sehe bei ihnen den ständigen Wunsch, aus den dunklen Kapiteln der Geschichte zu lernen. Aber wenn ich mir die miserable Erfolgsbilanz Deutschlands und der EU bei der Bekämpfung von Covid-19 ansehe und vor allem ihre klägliche Unfähigkeit, die Bürger schnellstmöglich gegen die Pandemie zu impfen, dämpft das meine Begeisterung über Europa. Irgendetwas läuft hier schief.
In den USA sind inzwischen 125 Millionen Impfdosen gegen das Coronavirus verabreicht worden, oder 38 je 100 Einwohner. In Deutschland sind es bloß zehn Millionen, oder 13 je 100 Einwohner. Durchgeimpft werden die Amerikaner in etwa zwei Monaten sein; in Deutschland dauert es noch sechs Monate. Wie viele Menschen in Deutschland werden sich bis dahin aufgrund der stümperhaften Politik und der kurzsichtigen Beschaffungsprozesse anstecken und unnötig sterben?
Die Impfgeschichte illustriert einiges über die Schattenseiten Deutschlands und der EU – zu viel Bürokratie, lähmende Dienstvorschriften und grotesk übertriebener Datenschutz. Aber sie zeigt auch einiges über die besseren Seiten Amerikas: Führung, Forschung und die unzähligen Vorteile einer wirklich freien Marktwirtschaft.
Ohne Frage haben die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr viel zu viele Fehler im Kampf gegen das Coronavirus gemacht. Aber wir sollten alle froh sein und anerkennen, dass die sonst so verhöhnte Trump-Regierung vor einem Jahr Führungsstärke zeigte, indem sie zehn Milliarden Dollar für die „Operation Warp Speed“bereitstellte – eine öffentlich-private Partnerschaft, um die Entwicklung, Herstellung und den Vertrieb von Covid-19-Impfstoffen zu beschleunigen.
Man stelle sich nur vor, die Welt hätte darauf warten müssen, dass Deutschland oder die EU die Führung bei der Entwicklung eines Gegenmittels übernimmt. Wahrscheinlich hätte es unter den 27 EU-Mitgliedern endlose Debatten über die Beschaffung, die Haftung, den Preis und Prioritätenlisten gegeben. Deutsche Gründlichkeit ist normalerweise eine Tugend, aber in der Pandemie tödlich. Was bringt es, nach fünf Monaten einen besseren Preis für die Biontech/Pfizer-Impfdosen ausgehandelt zu haben, wenn in der Zwischenzeit viele Leute krank werden oder sogar sterben? Die 101-jährige Edith Kwoizalla wurde am 26. Dezember als erster Mensch in Deutschland geimpft – eine gute Nachricht, zwei Wochen nachdem es in den USA losgegangen war. Allerdings gab es in Deutschland einen Tadel vom Gesundheitsministerium, weil der Arzt sie und 30 andere Bewohner und Mitarbeiter eines Seniorenheims in Sachsen-Anhalt einen Tag vor dem offiziell geplanten Start am 27. Dezember geimpft hatte. Eigentlich unfassbar.
Ist es eine Überraschung, dass der in Deutschland entwickelte Impfstoff von Biontech/Pfizer seine Wirkung bislang in dreimal so vielen amerikanischen Körpern entfalten konnte wie in deutschen? Die Amerikaner hatten im Juli 600 Millionen Dosen bestellt, noch bevor die Ergebnisse der klinischen Tests bekannt waren. Die EU und Deutschland brauchten bis November, um ihre erste Bestellung aufzugeben, und dann für nur 300 Millionen Dosen.
Freunde in den Vereinigten Staaten erzählen mir, wie sie ihre Impfungen in einer Apotheke bekamen, ohne Bürokratie oder Komplikationen, indem sie sich in Wartelisten für nicht verbrauchte Dosen eintrugen. Andere berichten, wie sie ihre Spritze in Drive-in-Impfzentren bekamen, von denen einige rund um die Uhr geöffnet sind.
In Deutschland hingegen höre ich deprimierende Geschichten. Über unbenutzte Impfdosen, die am Ende des Tages entsorgt werden. Über Senioren, die ihre Impfungen nicht bekommen oder verpassen, weil sie sich nicht online anmelden konnten oder keine E-Mail-Adresse oder kein Smartphone haben, um den Termin zu bestätigen.
Komm schon, Europa, reiß dich zusammen!
Der Autor berichtet aus Berlin für die „Los Angeles Times“(USA) und die „South China Morning Post“(Hongkong).