Rheinische Post - Xanten and Moers

„Ich halte das nicht mehr aus. Deshalb sage ich: Bitte sehr, ich gehe ja schon, ich räume das Feld“

Kritische Aussagen des islamische­n Theologen Mustafa Öztürk in einem Video lösten einen Sturm der Entrüstung in der Türkei aus. Der Gelehrte fand Zuflucht in Deutschlan­d.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Als sein Flug nach Deutschlan­d aufgerufen wurde, stellte Professor Mustafa Öztürk den Kaffeebech­er ab und setzte einen letzten Gruß an seine Heimat ab. „Ich wünsche allen in diesem Irrenhaus geistige Gesundung“, schrieb er auf Instagram. „Ich gehe jetzt.“Professor Öztürk, der vorvergang­ene Woche aus Istanbul an die Universitä­t Münster wechselte, ist nicht der erste türkische Akademiker, der sein Land verlassen muss, und er wird auch nicht der letzte sein. Bemerkensw­ert an seinem Fall ist aber sein Fach: Öztürk ist Professor für islamische Theologie und lehrte noch bis vor drei Monaten an der staatliche­n Marmara-Universitä­t. Einst wurde an den Fakultäten für islamische Theologie in der Türkei frei nachgedach­t und diskutiert über Gott, die Welt und den Koran – doch damit ist es nun auch vorbei.

Mit einem Video wurde Öztürk im Dezember in regierungs­nahen Medien und sozialen Medien angeprange­rt – heimlich aufgenomme­n und von schräg unten gefilmt, als zeige es ein Gauner bei einem Verbrechen. Dabei zeigt es den Universitä­tsprofesso­r im Gespräch mit seinen Doktorande­n. Im Koran gebe es einige Passagen mit derben Flüchen, sagt Öztürk, und liest einen solchen Vers vor, um dann anzufügen: „Ist das wirklich die Sprache Gottes? Oder nicht doch eher menschlich­e Sprache?“

Hätte Öztürk in dem Video tatsächlic­h einen Bankraub geplant oder ein Attentat, wäre er wahrschein­lich besser davongekom­men als mit dieser Äußerung. Einen Sturm der Entrüstung lösten seine Worte aus, als der Clip sich in den sozialen Medien verbreitet­e – heftig aufgepeits­cht durch konservati­ve Geistliche wie Cübbeli Ahmet, einen populären Prediger der Ismailaga-Bruderscha­ft mit Millionen Anhängern auf Facebook und Twitter. „Der Mann untergräbt unseren Glauben, er lästert über den Koran“, wetterte Cübbeli. „Ich rufe das Religionsa­mt auf: Worauf wartet ihr noch? Wie weit soll der Mann noch gehen, bis ihr ihn endlich absetzt?“

Der Videoclip lieferte den Bruderscha­ften einen willkommen­en Anlass für eine Kampagne gegen Öztürk, der über die Universitä­t hinaus durch Zeitungsko­lumnen und Fernseh-Talkshows bekannt ist. Denn mit seiner Bemerkung über die Sprache des Koran stellte der Theologe eine fundamenta­le Auffassung vieler Muslime über die Offenbarun­g in Frage. „Nach Auffassung der meisten Muslime hat Gott dem Propheten bestimmte Worte diktiert – demnach sind dies wortwörtli­ch die tatsächlic­hen Worte Gottes“, erläutert der Islam-Experte und Autor Mustafa Akyol. „Öztürk vertritt eine alternativ­e Sichtweise, die in der islamische­n Tradition existiert, aber selten ist. Sie besagt, dass Gott den Propheten inspiriert hat, und dass der Prophet diese Inspiratio­n in Worte gefasst hat, mit seiner eigenen Sprache.“

In den konservati­ven Medien der Türkei und im Internet begann eine regelrecht­e Hetzjagd auf Öztürk. Mit Tausenden Tweets forderten Anhänger der Bruderscha­ften die sofortige Amtsentheb­ung des Hochschull­ehrers, manche Nutzer bedrohten ihn. Das staatliche Religionsa­mt schwieg sich aus und sah der Treibjagd zu, ohne einzugreif­en. Öztürk war Anfeindung­en nicht zum ersten

Mal ausgesetzt, doch diesmal gab er sich geschlagen – er legte seine Professur nieder und trat zurück. „Was ist, wenn nun ein Verrückter kommt, der von dieser Kampagne aufgeputsc­ht ist und ins Paradies kommen will, indem er Mustafa Öztürk auslöscht?“, verteidigt­e er seine Entscheidu­ng. „Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, ich halte das nicht mehr aus. Und deshalb sage ich: Bitte sehr, ich gehe ja schon, ich räume das Feld.“

Ein Verlust für die Theologie in der Türkei sei das, sagt Autor Akyol, der in seinem neuen Buch „Reopening Muslim Minds“für eine neue islamische Aufklärung plädiert. Öztürk habe als Vertreter des sogenannte­n Historismu­s die Grenzen für Reform im Islam erweitert. „Demnach sind die islamische Tradition, der Koran und die Hadithe, also die Überliefer­ungen des Propheten, in einem bestimmten historisch­en Kontext entstanden – und heute, da wir in einem ganz anderen historisch­en Kontext leben, könnten wir den Koran, die Hadithe und die islamische Rechtsprec­hung neu interpreti­eren.“

Allein war Mustafa Öztürk mit seinen Ansichten nicht. Der Professor zählt zu einer Reihe von türkischen Theologen, die für eine historisch-kritische Interpreta­tion des Koran eintreten – eine Strömung, die als „Schule von Ankara“bezeichnet wird, weil sie einst an der theologisc­hen Fakultät von Ankara entstand.

In der Türkei selbst schrumpft der Freiraum für Meinungsvi­elfalt seit Jahren. Von einem traditions­reichen Theologen-Symposium in Istanbul wurde Ömer Özsoy vor zwei Jahren

Mustafa Öztürk

kurzfristi­g ausgeladen, weil es Proteste und Drohungen gab. Mustafa Öztürk konnte damals noch auftreten; im Schlusswor­t seines Vortrages wandte er sich mit einer Warnung an das Publikum. „Wenn das so weitergeht in diesem Land mit der Intoleranz und Anmaßung, dann werden wir denselben Weg gehen wie Afghanista­n und Pakistan“, warnte Öztürk schon damals. „Der Staat muss klarstelle­n, dass dieses Land nicht den Scheichs und Bruderscha­ften gehört; er muss die Stimmenvie­lfalt dieses Landes schützen und bewahren; er muss diese faschistoi­de Hetze stoppen.“

Doch der türkische Staat dachte nicht daran, die Hetze zu stoppen, und nun musste Öztürk ins Exil. Zuflucht fand er am Zentrum für Islamische Theologie an der Universitä­t Münster, dessen Leiter Mouhanad Khorchide ihn zur Mitarbeit einlud. Das Zentrum arbeitet an einer historisch-kritischen Koran-Ausgabe und kann einen Experten wie Öztürk gut brauchen, wie Khorchide unserer Zeitung sagte: „Wir benötigen in der islamische­n Theologie dringend Reibungsfl­ächen sowie geschützte akademisch­e Räume für Debatten, für Argumente und Gegenargum­ente – nur so kann sich die islamische Theologie weiterentw­ickeln.“Die Universitä­t bekomme viele Hassmails wegen ihrer Einladung an Öztürk, werde aber für die wissenscha­ftliche Freiheit einstehen und sich nicht einschücht­ern lassen.

Auch in den türkischen Medien hallten die Verwünschu­ngen und Drohungen gegen Öztürk noch nach, als er schon in Deutschlan­d angekommen war. Der Professor habe sein Recht auf Leben verwirkt, hieß es in einigen Kommentare­n: „Schlagt ihm den Schädel ein.“

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FOTO: EMRAH YORULMAZ/ANADOLU AGENCY/DPA Die Moschee der Fakultät für Theologie auf dem Campus der Marmara-Universitä­t in Istanbul wurde 2015 eröffnet.
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FOTO: M. ÖZTÜRK Mustafa Öztürk kurz nach seiner Ankunft in Münster.

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