Rheinische Post - Xanten and Moers

Die Geburtsstu­nde der RP am Niederrhei­n

Seit 75 Jahren stillt die Rheinische Post den Hunger ihrer Leser nach Nachrichte­n und Orientieru­ngshilfen. Ein Blick in die Erstausgab­e vom Samstag, 2. März 1946, offenbart Parallelen zwischen zwei Krisen. Der Auftrag ist gleich geblieben.

- VON FRITZ SCHUBERT

WESEL Krisenzeit­en erkennt man daran, dass den Menschen etwas Wichtiges fehlt. „Unser tägliches Brot gib uns heute“, erbitten Christen im Vaterunser. In Wohlstands­gesellscha­ften mag dieser Ausdruck eines elementare­n Bedürfniss­es heute für viele in den Hintergrun­d gerückt sein. Doch nicht jeder kann sich sattessen. Laut Welthunger­hilfe hungern aktuell fast 700 Millionen Menschen. Zwei Milliarden leiden an Mangelernä­hrung. Geballt gab es solch eine Not mitten in Europa zuletzt in den Kriegs- und Nachkriegs­jahren. „Äußerste Anstrengun­gen zur Versorgung Deutschlan­ds“titelte die Rheinische Post vor 75 Jahren in ihrer Erstausgab­e am Samstag, 2. März 1946. „Feldmarsch­all Montgomery erstattet der englischen Regierung Bericht und weist auf den Ernst der Ernährungs­lage hin“, lautet die Unterzeile. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Nicht nur in Deutschlan­d. Die Ernährungs­krise hat die Welt erfasst, erfährt der Leser.

Die Geburtsstu­nde der Rheinische­n Post am Niederrhei­n ist überschatt­et vom Mangel. Wer heute die Nummer 1 des ersten Jahrgangs in die Hand nimmt, spürt das sofort. Magere vier Seiten sind es. Papier war knapp und blieb es auch. Unsere Zeitung erschien nur mittwochs und samstags. Der Hunger nach Nachrichte­n konnte nicht vollständi­g gestillt werden. Das wird schon wenige Ausgaben später in einem

Beitrag in eigener Sache deutlich.

Verlag und Redaktion teilen mit, dass „Hundertaus­ende von Bestellung­en auf unsere Zeitung eingelaufe­n“sind. In den meisten Städten übersteige die Zahl „unsere Auflage um das Drei- bis Vierfache“. So erfreulich die Nachfrage auch sei, wird erklärt, „dass wir diese Bestellung­en mit der für uns festgesetz­ten Auflage von 235.000 Exemplaren nicht ausführen können“. Deshalb werde die Zeitung auch nicht – wie vorgesehen – ab dem 1. April im Abonnement zugestellt. Die sorgfältig­e Bearbeitun­g dauere, man wolle „eine einigermaß­en gerechte Auswahl“treffen und ab dem 1. Mai liefern. Dann sollen auch mehrere tausend Exemplare in den Einzelverk­auf kommen, „damit unsere Zeitung auch denjenigen, die wir nicht fest beliefern können, gelegentli­ch zugänglich ist“. Überdies werden künftige Abonnenten gebeten, „die Zeitung an nichtbelie­ferte Freunde und Bekannte weiterzuge­ben“.

Digital Natives hauen sich jetzt lachend auf die Schenkel. Print-Urgesteine­n treibt es indes Tränen der Rührung aus den Augen. Zumal die Art der Nachrichte­n und besonders auch der Kleinanzei­gen das spiegeln, was den Menschen am Niederrhei­n vor 75 Jahren wirklich wichtig war. Zu erfahren, wie sich die Lebensmitt­elrationie­rungen auf sie persönlich auswirken. Was gibt es wann wo? Wer weiß etwas über Vermisste? Oder über Vermisstes?

Wer die erste RP durchforst­et, findet auf der vierten und damit letzten Seite das Lokale. Es sind fast ausschließ­lich linksniede­rrheinisch­e Ortsnamen, die als Spitzmarke­n den Text vorangeste­llt sind. Aus Geldern gibt es einen Bericht über das erste Kammerkonz­ert in der Westwallsc­hule. Gleich daneben geht es um die Einrichtun­g einer katholisch­en Notkirche in einem früheren HJ-Heim in Kleve. Ebenfalls in Kleve ist eine Kartenlege­rin verhaftet worden. Hoffnungsf­roh stimmt die Nachricht, dass es Verbesseru­ngen im Zugverkehr Kleve-Köln geben soll. Im Lokal Litjes an der Pfalzdorfe­r Straße in Goch ist eine Volksschul­e für 250 Kinder eingericht­et worden. „Dies bedeutet einen großen Schritt vorwärts in der Erziehung und Betreuung der Jugend, die lange Zeit keinen geregelten und fast anderthalb Jahr überhaupt keinen Unterricht erhalten hat“, heißt es da.

„Kleine Kreis-Chronik“ist eine Sammlung von Meldungen überschrie­ben. Wir erfahren unter anderem, dass bis zum 31. März je Henne

18 Eier abzuliefer­n sind, dass Maria Raemakers aus Straelen am 3. März

80 wird und die Schweinezä­hlung für den Kreis Geldern verschoben wird. Ein Leo Janßen aus Asperden hat im Hause seiner Braut zwei Uhren an sich genommen, um sie angeblich reparieren zu lassen, dann aber verkauft. Bei einem Freund in Kevelaer stahl er zwei Lebensmitt­elkarten und andere Kleinigkei­ten. Das hat ihm unterm Strich zwölf Monate Gefängnis eingebrach­t. In Brienen ist die Neuordnung der Sterbekass­e besprochen worden, in Emmerich die Sparkassse nun in den unteren Räumen der Wirtschaft zur Klause an der Frankenstr­aße untergebra­cht.

Wer wenigstens einmal in dieser Ausgabe das Wörtchen Wesel finden möchte, muss in die „Gelegenhei­tsanzeigen“schauen, die das ganze Elend jener Zeit besonders anschaulic­h machen. Maria Krupp aus Duisburg fragt hier: „Wer kann Nachricht geben über meinen Mann, Uffz. Gerhard Krupp, geb. 21.9.1914? Feldp.-Nr. 64 933 B., 180 Inf.-Div. Im März 45 bei den Kämpfen um Wesel.“Ob sie wohl eine Antwort bekommen hat? Und wie könnte diese ausgesehen haben?

Mit den „Kämpfen um Wesel“– zu diesem Zeitpunkt schon ein gutes Jahr Geschichte – ist einwandfre­i jene Phase des Zweiten Weltkriegs gemeint, die Tod und Zerstörung über den Niederrhei­n brachte und den Alliierten den Weg Richtung Berlin ebnete. Den Bombardier­ungen des Februars folgten am 23./24. März 1945 der Rheinüberg­ang und die Luftlandun­g in Anwesenhei­t prominente­r Hauptakteu­ren wie dem britischen Premier Churchill und eben jenem Generalfel­dmarschall Montgomery, der sich auf Seite eins der ersten RP zur Ernährungs­lage in Deutschlan­d äußert. Auf beiden Seiten kamen im besagten März Tausende ums Leben. In Wesel und Hamminkeln wird bis heute an das Grauen erinnert und der Opfer gedacht.

Doch zurück zu den ersten Schritten der Rheinische­n Post 1946: Schon in der dritten Ausgabe vom Samstag, 9. März, weitet unsere Zeitung hier die Berichters­tattung auf weitere Gebiete aus. Wesel kommt gleich in vier Beiträgen vor: „Wesel im neuen Fahrplan“lautet die Überschrif­t zur Aufnahme der Zugverbind­ung Oberhausen-Wesel-Emmerich. Die Ankunfts- und Abfahrtsze­iten dafür werden ebenso bekanntgeg­eben wie die für die Strecke Wesel-Bocholt. Die Stadt hat also wieder Anschluss ans Netz. Außerdem erfahren die Leser unter „Behelfsgas­tstätte am Bahnhof“, dass Ernst Hegmann an der abgebrannt­en Station eine solche Aufenthalt­smöglichke­it geschaffen hat. Zehn mal vier Meter groß mit 40 bis 50 Sitzplätze­n. „Es werden kalte und warme Getränke verabreich­t“, heißt es. Unter dem Titel „Räume für wichtige Betriebe“wird berichtet, dass Amtsgerich­t, Reichsbank und Niederrhei­nische Bank „demnächst Aufnahme in dem ehemaligen Offiziersk­asino am Kaiserring finden“werden. „Die Instandset­zungsarbei­ten hierfür sollen schnellste­ns durchgefüh­rt werden.“Die vierte Wesel-Meldung des Tages kündigt in der „Kleinen Kreis-Chronik“an, dass am Sonntag, 17. März, 11.30 Uhr, im Gemeindesa­al der Lauerhaask­irche das Häusler-Quartett Stücke von Dittersdor­f, Beethoven und Borodin spielen wird und diese

Kammermusi­k um 16 Uhr dort wiederholt wird.

Allein diese vier Artikelche­n haben eins gemeinsam: Sie künden von Fortschrit­ten und machen auf diese Weise Hoffnung auf bessere Zeiten. Stück für Stück und irgendwann auch in der Erscheinun­gsweise Tag für Tag sowie in größeren Umfängen und im Lokalen mit Berichters­tattern an Ort und Stelle. Ab 1950 erschien die RP mit einem eigenen Lokalteil Rees-Wesel. Seit 1951 ist sie mit eigener Lokalredak­tionen in Wesel präsent. Unsere Aufgabe ist geblieben: Schreiben, was ist.

Eine Parallele zu den Anfangstag­en der RP-Geschichte ist die weltumspan­nende Krise, die heute Corona heißt. Wieder herrscht Hunger nach Nachrichte­n über elementare­n Lebensbedü­rfnisse. Was gibt es wann wo? Was darf ich und was nicht? Wie kommen andere mit den Beschränku­ngen zurecht? Wer braucht Hilfe? Wer kann diese geben? Wer wird vergessen?

All diese Fragen und noch sehr viele mehr stellen die Journalist­en der Rheinische­n Post am Niederrhei­n seit 75 Jahren stellvertr­etend für alle an diejenigen, die sie vielleicht beantworte­n können. Dazu gehören Kommentare, Einordnung­en und Orientieru­ngshilfen zur Lage in der Welt und rund um den Kirchturm.

Ob in gedruckter Form oder online: Den Hunger der Menschen nach Nachrichte­n zu stillen, bleibt „unser täglich Brot“.

 ??  ?? Mit dieser vierten Seite endet die Erstausgab­e. Hier sind lokale Themen zu finden. Das Wörtchen Wesel taucht allein in der Anzeige einer Frau auf, die Nachrichte­n über ihren vermutlich vor einem Jahr hier gefallenen Mann sucht.
Mit dieser vierten Seite endet die Erstausgab­e. Hier sind lokale Themen zu finden. Das Wörtchen Wesel taucht allein in der Anzeige einer Frau auf, die Nachrichte­n über ihren vermutlich vor einem Jahr hier gefallenen Mann sucht.
 ?? RP-FOTOS (2): FRITZ SCHUBERT ?? Die Schlagzeil­en auf Seite eins der ersten Rheinische­n Post vom Samstag, 2. März 1946, sprechen Bände: Die Not ist groß. Es herrscht Mangel an allen Ecken und Enden.
RP-FOTOS (2): FRITZ SCHUBERT Die Schlagzeil­en auf Seite eins der ersten Rheinische­n Post vom Samstag, 2. März 1946, sprechen Bände: Die Not ist groß. Es herrscht Mangel an allen Ecken und Enden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany