Rheinische Post - Xanten and Moers
Daten sind nicht alles
Auch in den Redaktionen spielen Daten eine immer größere Rolle. „Machine Learning“kann auch den Journalismus verbessern – ihn ersetzen kann künstliche Intelligenz nicht.
Stellen Sie sich vor, wenige Wochen vor der Bundestagswahl verbreitet sich über soziale Netzwerke und Messenger wie Whatsapp ein Video. Es ist nur wenige Sekunden lang, aber dennoch politisch höchst brisant. Der Kanzlerkandidat der CDU ist darin zu sehen. Armin Laschet verharmlost in diesem Video den Holocaust, beleidigt seine Parteikollegen und verhöhnt die Opfer der Corona-Pandemie.
Armin Laschet wäre politisch erledigt. Doch was, wenn er keinen dieser Sätze je gesagt hätte?
Menschen haben Computer programmiert, um einfache Rechnungen zu lösen, dann wurden die Maschinen intelligenter – und inzwischen ist die Technologie so ausgereift, dass sie aus unzähligen Daten so genannte Deep Fakes erschaffen können. Deep Fakes sind täuschend echte Videos. Die Technologie ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass es immer schwieriger wird, den Unterschied zwischen Realität und Fiktion zu erkennen.
Im Internet kursieren unzählige solcher Videos, zum Beispiel von Ex-US-Präsident Barack Obama, der sich in dem kurzen Film über seinen Nachfolger Donald Trump lustig macht. Je häufiger die Person medial in Erscheinung tritt, desto besser können die Algorithmen die Illusion kreieren. Am Ende ist alles eine Frage der Daten. Das kann amüsant sein, wenn man mit montierten Videos ein paar harmlose Witze im Freundeskreis macht.
Das kann aber natürlich auch schnell zu politischen Diskussionen führen – und im Extremfall die Demokratie gefährden, wenn Menschen auf solche raffinierten Fälschungen hereinfallen. Diskussionen wie jene über den ausgestreckten Mittelfinger des früheren griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, den der Satiriker Jan Böhmermann für seine Fernsehsendung in ein Video montieren ließ, sind dagegen noch harmlos. Und genau an dieser Stelle kommen Journalisten ins Spiel.
Recherche ist eine der zentralen Aufgaben von Journalisten – und wird es auch immer bleiben. Der Journalismus hat sich in den 75 Jahren seit Bestehen der Rheinischen Post permanent verändert durch Technologiesprünge. Früher wurden Texte auf der Schreibmaschine getippt, später auf dem Computer. Früher schickten die Fotografen die Filmrollen zum Entwickeln teilweise per Taxi in die Redaktion, heute laden sie die Bilder von den Kameras noch vor Ort auf ihren Laptop und stellen sie per Internet in das Redaktionssystem ein. Früher ging man auf Termine, heute lässt sich manches per Videokonferenz erledigen. Die Werkzeuge haben sich für den Journalisten geändert, die Ausspielkanäle auch – doch es geht weiterhin darum, relevante Informationen zu vermitteln.
Künstliche Intelligenz und Daten sind keine Bedrohung für den Journalismus, sondern können sogar eine Bereicherung sein. „Dieser Text wurde auf Grundlage der RKI-Daten automatisch generiert und wird jeden Morgen automatisch aktualisiert“, heißt es unter der Zusammenfassung der aktuellen Pandemie-Situation auf RP-Online. Durch maschinelles Lernen sind Systeme inzwischen in der Lage, aus Daten Texte zu erstellen – Wetterberichte, Staumeldungen, Fußballergebnisse.
Die Rheinische Post veröffentlicht heute schon ständig aktualisierte Verkehrsmeldungen von NRW-Autobahnen, bei der Kommunalwahl 2020 wurde für die Wahlbezirke in Düsseldorf, Gladbach, Neuss, Duisburg und Köln auch mit automatisierten Wahlergebnis-Analysen gearbeitet. So sind Texte entstanden, für die es früher keine personellen Kapazitäten gegeben hätte – die dem Leser aber einen zusätzlichen Nutzen bringen können.
Die Zukunft wird sogar noch mehr Vorteile bereithalten. Sprachbarrieren werden durch automatische Übersetzungen verschwinden. Schon heute liefern Unternehmen wie DeepL aus Köln mit ihrer Übersetzungssoftware Ergebnisse ab, die so gut sind, dass mancher Dolmetscher um seine Zukunft bangen muss. Und mit jeder Eingabe, mit jeder Übersetzung, lernen die Algorithmen mehr dazu. Simultane Übersetzung von Sprache wird irgendwann von einer Software erledigt werden, Menschen können dann verstehen, was in Filmausschnitten der „Tagesthemen“zu sehen ist – und müssen es sich nicht vom Reporter übersetzen oder gar zusammenfassen lassen. So bleibt mehr Zeit für die Analyse, die Einordnung. Gleichzeitig zwingt es Journalisten, noch sauberer zu arbeiten.
Was Algorithmen schon heute vollbringen können, zeigt beispielsweise das Startup Ella aus Köln. Eine eigens entwickelte künstliche Intelligenz kann aus Stichworten oder einigen Sätzen fiktionale Geschichten machen. Hörbücher oder Kurzgeschichten könnten schon bald von einem Computersystem geschaffen werden. Ella schreibt Geschichten mit Titeln wie „Auf der Flucht“, sie schreibt auf Englisch und Deutsch. Sie schreibt Geschichten, bei denen man nicht sofort merkt, dass sie ohne menschliches Zutun entstanden sind.
Ella und ihre Artgenossen könnten irgendwann auch journalistische Texte schreiben, künstliche Intelligenz könnte Podcasts einsprechen oder Nachrichtentexte im Fernsehen vortragen. Aber diese Systeme funktionieren auf Basis mathematischer Formeln, sie erschaffen Produkte, wie sie von Menschen erschaffen werden – aber sie sind keine Menschen. Der Kern des Journalismus wird von der Entwicklung daher nicht betroffen, gute, belastbare Geschichten müssen weiterhin recherchiert werden. Und dafür braucht es Menschen, die rausgehen, telefonieren, Quellen befragen und ihre Schlüsse daraus ziehen.
Technologie kann dabei helfen, dass Journalisten ihren Beruf besser ausüben können – oder im Fall von Deep Fakes dafür sorgen, dass Journalisten noch genauer hinschauen, noch mehr recherchieren müssen.
Doch es gibt neben der inhaltlichen Arbeit noch eine zweite Dimension. Denn Daten können auch dabei helfen, die Leser und ihre Bedürfnisse besser zu verstehen. Das Individuum spielt dabei keine Rolle, es geht um ein abstraktes Verständnis der Bedürfnisse. Ein Beispiel: Früher begann die Arbeit für viele Redakteure tendenziell eher spät, dauerte dafür aber recht lang. Die gedruckte Zeitung am nächsten Morgen sollte möglichst aktuell sein – daher machte es Sinn, abends bis zur letzten Minute die Möglichkeiten vor dem Andruck auszureizen.
Doch die Zugriffszahlen bei RP-Online zeigen, dass viele Menschen heute schon morgens früh nach dem Aufstehen zu ihrem Smartphone greifen und sich mit aktuellen Nachrichten versorgen wollen. Die Daten zeigen, dass auch die Mittagspause dafür genutzt wird. Ist es da für den Leser nicht besser, dass die Abläufe in der Redaktion so angepasst werden, dass sie zu diesen Zeiten möglichst aktuelle Informationen bekommen? Wann der Einzelne aufsteht, ist für die Arbeit der Journalisten unerheblich – aber wenn Daten eine Häufung von ähnlichen Fällen zeigen, macht es Sinn, darauf zu reagieren.
So wird es weitergehen. Redaktionen werden lernen, ihre Leser und deren Interessen besser zu verstehen. Technologie ist dabei eine Brücke. Doch schon heute gilt auch im Newsroom der Rheinischen Post: Die Daten können Anhaltspunkte für das Leser-Interesse geben. Aber die Entscheidung über die Platzierung von Geschichten trifft immer ein Journalist nach journalistischen Kriterien.