Rheinische Post - Xanten and Moers
Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch
Schaephuysen liegt im letzten Zipfel des Kreises Kleve und ist schon seit rund 50 Jahren nicht mehr selbstständig. Banken schließen, Schulen werden zusammengelegt, doch Schaephuysen stirbt nicht. Im Gegenteil. Besuch in einem Dorf voller Macher.
James Bond schreibt sich, wie man’s spricht; bei Schaephuysen ist es etwas anders. Deshalb gleich vorweg: Hüsen, es heißt Schahp-Hüsen. Um einen guten Eindruck davon zu bekommen, fährt man natürlich am Besten hin, in den südöstlichsten Zipfel des Kreises Kleve, dem es eher theoretisch als praktisch angehört. Ins augenscheinliche Niemandsland zwischen
B9 und A40, Schaephuyser Höhenzug und den Eisvögeln im Beinahe-Urwald Littard.
Vielsagend ist aber auch der Wikipedia-Eintrag zum Dorf. Der Abschnitt „Geschichte“etwa enthält einzig den Satz „Am
1. Juli 1969 wurde Schaephuysen in die Gemeinde Rheurdt eingegliedert.“Der Hauptteil behandelt das Vereinsleben, in dem fast jeder zweite der rund 2700 Bürger aktiv ist. Was kurioserweise fehlt: 2019 holte Schaephuysen Gold auf Bundesebene in jenem Wettbewerb, der aus dem gern belächelten „Unser Dorf soll schöner werden“hervorging. Es ist der Nobelpreis für Dörfer, mit dem Schaephuysen da prämiert wurde. Aber die Leute hier finden, dass es wichtiger ist, weiter daran zu arbeiten, anstatt es bei Wikipedia aufzulisten.
Ihnen ist nichts in den Schoß gefallen; die Auszeichnung nicht und die Zukunftsfähigkeit schon gar nicht. Das Dorf erodiert, wie so viele andere auch. 2014 etwa schloss die Sparkasse ihre Filiale. „Also sind alle Leute zur Volksbank gegangen – und die hat dann zur Belohnung auch den Laden dicht gemacht.“Klaus Kleinenkuhnen (67) gibt sich keine Mühe, seinen Sarkasmus zu verbergen. Seit Ende 2020 ist er Pensionär, davor war der Verwaltungsfachmann hier in Rheurdt parteiloser Bürgermeister. 16 Jahre lang, die letzten waren die schwersten. Die größte Herausforderung trug den Namen eines ganzen stolzen Ortsteils: Schaephuysen. Es drohte die Vergreisung. Junge Neubürger hätte man nur zu gern begrüßt, doch die Ausweisung von Bauland im Außenbereich verbot der Landesentwicklungsplan. „Theoretisch kannst du natürlich den Bestand verdichten“, sagt Kleinenkuhnen. „Mehr Stockwerke pro Haus oder geringere Abstände dazwischen. Aber dann verliest du den Dorfcharakter.“Vor seinem inneren Auge sah er Schaephuysen schon siechen. Da erwachte der Kampfgeist: „Wir entschlossen uns dazu, nicht unterzugehen.“
Die Realität aber war von dieser Entschlossenheit zunächst wenig beeindruckt. Man war gezwungen, die Grundschule in Schaephuysen zu schließen und mit jener in Rheurdt zusammenzulegen. „Am Abend nach diesem Ratsbeschluss habe ich in der Kneipe die Vorstände unserer Vereine getroffen“, erzählt Kleinenkuhnen. „Die haben mich erstmal 20 Minuten lang verhauen. Danach aber haben wir abgehakt, was wir verloren haben, und uns gefragt: Was machen wir aus dem, was wir haben?“
Bald stand fest: Die bisherige Grundschule soll an einen Investor verkauft werden, und zwar an einen, dessen Konzept dem Ort gut tun würde. Doch die Optimisten wurden unsanft ausgebremst. Die Landesbehörde Straßen NRW verfügte, dass die enge Zufahrt
umgebaut werden müsse – für 360.000 Euro. Zuvor hatte das sechzig Jahre lang niemanden interessiert. Der Rat nahm das Geld in die Hand. In die alte Schule sollen nun bald Physiotherapeuten einziehen und ein kleines Hotel samt Café. Obendrein kaufte die Gemeinde die ehemaligen Bank-Gebäude. Dort zogen Gewerbetreibende wie „Der Steak-Lieferant“ein, aber auch die Polizeistation, das Bürgerbüro, eine Kinder- und Jugendtagesstätte sowie die Heimatstube einquartiert und Wohnungen eingerichtet.
Miriam Kerberg kam nicht ganz freiwillig aus Neukirchen-Vluyn nach Schaephuysen. Der Umzug war eine Notlösung, keine Spur von Liebe auf den ersten Blick: „Alle meine Freunde zogen nach Hamburg oder Köln, in coole Städte eben. Und ich kam nach Schaephuysen...“Doch die knapp zehn Jahre seitdem waren für die 29-Jährige voller positiver Überraschungen. „Ich habe unheimlich schnell Anschluss gefunden. Heute sage ich: Hier ist es einmalig!“
Hier gibt es eben nicht nur Landschaft satt, sondern auch noch eine echte Kneipenkultur und den Tante-Emma-Laden von Angela Hoyer, der seit 80 Jahren in Familienbesitz ist. „Da werden die Leute richtig betüddelt“, sagt Kleinenkuhnen. „Wenn du eine vierte Sorte Senf willst, besorgt Angela dir die.“Der Einkauf ist es zwar ein, zwei, oder vielleicht auch vier Euro teurer – aber dafür fällt eben auch die Fahrerei zum Discounter in Nachbarort weg. Und den Dorfklatsch gibt’s gratis obendrauf.
Eine Schwäche aber blieb – ihren Hunger nach Kultur konnte die Grafikdesignerin Kerberg lange nur in Krefeld, Moers oder Duisburg stillen. „Das fehlte hier.“Doch das erste „Heimspiel“-Festival im Ort 2016, gegründet von drei Familienvätern, übertraf ihre überschaubaren Erwartungen. Wenig später war sie unter den Mitgründern des gleichnamigen Vereins, um das Festival mit Bands aus aller Welt zur Institution zu machen. Bei der vierten Auflage 2019 spielten acht Bands auf dem Marktplatz, und 2300 Besucher kamen. Möglich machen das knapp 200 freiwillige Helfer. „Mich beeindruckt die Selbstverständlichkeit, mit der alle dabei sind“, sagt Kerberg. Niemand frage nach Freibier. „Alle sagen: ‚Natürlich helf‘ ich! Und ich ruf‘ meinen Cousin an, der kommt auch eben mit seinem Trecker rum.‘“
Am Ende bleibt zudem stets eine vierstellige Summe für den guten Zweck übrig - und trotzdem werden die Bands marktüblich bezahlt, aus Prinzip. Und gerade weil die Macher die Bands nicht mit dem Charity-Argument bedrängen, spendet mancher einen Teil der Gage direkt wieder zurück. Für das Publikum gilt dasselbe: „Nach der Corona-bedingten Absage haben wir uns zwei Tage hingesetzt, damit die Leute ihre Tickets zurückgeben konnten. Doch es kamen kaum Leute – und die meisten von denen wollten nur fragen, wie sie uns weiter unterstützen können.“
Genährt wird dieser Zusammenhalt in einer beinahe revolutionären Einrichtung mit dem drögen Namen „Interessengemeinschaft Schaephuysener Bürger und Vereine“. Hier diskutieren die Engagierten aller Art, stimmen einzelne Termine aufeinander ab und schmieden gemeinsame Pläne. Der langjährige „Verein der Vereine“wurde so beliebt, dass auch Nicht-Vereinsmeier mitmachen wollten. Der Vorstand hütete sich, es ihnen zu verwehren. „Der Gedanke ‚Die anderen machen dat schon‘ führt nicht weit“, sagt Kleinenkuhnen.
Dazu läuft vieles auf dem kurzen Dienstweg: Jeder kümmert sich um irgendwen oder irgendwas; so ist am Ende an alles gedacht. Viele Einwohner halten als „Beet-Paten“ihr Straßengrün in Ordnung. Der zentrale Parkplatz dient demnächst dank fester Strom- und Wasseranschlüsse auch als „Feier-Platz“. Beim Panorama-Wanderweg „Sonnenkino“packten unter anderem Feuerwehr und Marine-Spielmannszug mit an. Die Schützen unterstützen jährlich Nachbarschaften etwa beim Bau eines Bouleplatzes. Einen ehemaligen Trafo-Turm hat der Heimspiel-Verein gekauft, hübsch bemalt und zum „Leuchtturm der Artenvielfalt“umgenutzt. Der Pfarrer bietet die Kirche gern als Festival-Spielort an und hat auf die Frage in der örtlichen Facebook-Gruppe hin eine Spiele-Tauschbörse eingerichtet. Es gibt eine Mitfahrer-Bank und Carsharing. Und jedes gelungene Projekt setzt neue Energie frei für das nächste.