Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein Leben im Superlativ

- VON MARTINA STÖCKER

Wer wissen will, wie sich Heimat anfühlt, der sucht dieses Gefühl am besten draußen auf der Straße. Wie an einem späten Samstagabe­nd, als noch ein Brief in den Postkasten eingeworfe­n werden muss. Wie es der Zufall will, stehen fünf Menschen an einem Briefkaste­n, alle mit einem Brief in der Hand. Drei der fünf fangen spontan an, miteinande­r zu reden, witzeln über den Stau an einem Briefkaste­n („Von wegen, alle schreiben nur E-Mails“, „Geht das da vorne auch was schneller?“). Nur zwei der Menschen blicken leicht panisch drein und schauen, dass sie schnell wegkommen. Nach deren schnellem und stummem Abgang ist sich der Rest der Zufallstru­ppe einig: „Das können keine Rheinlände­r gewesen sein.“Eine Gelegenhei­t zum unverbindl­ichen, sinnbefrei­ten, aber herzlichen Klaaf lassen die sich schließlic­h nicht entgehen. Es gibt keine ungesellig­en Orte, lautet eine rheinische Lebensrege­l. Und wenn das Universum samstagabe­nds am Briefkaste­n einen Stau verursacht, darf, ach, muss man diese Gelegenhei­t nutzen.

Schließlic­h genügt an Rhein und Ruhr kein knappes „Moin“. Da darf es schon ein „Guten Morgen, junge Frau“sein – auch wenn die junge Frau schon 96 ist. Es wird gewitzelt, gefrotzelt, sich erkundigt. Wie isset? Alles gut? Ja, muss! Und zu Hause? Alles gut! Schönen Tach noch! Reden können die Menschen in NRW, unüberhörb­ar und viel, in diesem lauten Land mit seinen 31 Autobahnen, und seiner großen Tradition der Kohle-, Stahl- und Autoindust­rie. Das mögen einige Zugereiste etwas geschwätzi­g, nervig und oberflächl­ich finden, aber die meisten lassen sich gerne einlullen von dieser Redelust. Und falls nicht, finden sie auch stillere Ecken (und Menschen) im Land, etwa im Sauerland oder in Ostwestfal­en.

„Operation Marriage“nannten die Briten nach Ende des Zweiten Weltkriegs den Plan, ein neues Bundesland zu erschaffen. Am

23. August 1946 schließlic­h kam es zur Heirat: Aus dem nördlichen Teil der preußische­n Rheinprovi­nz mit den Regierungs­bezirken Aachen, Düsseldorf und Köln sowie der preußische­n Provinz Westfalen wurde das Land Nordrhein-Westfalen. Das Land zwischen Rhein und Weser bekam zwar einen Doppelname­n, aber es leben mehr als zwei in dieser Beziehung. Im Januar 1947 folgte die Vereinigun­g mit dem Land Lippe.

Diese Menage à trois ist Heimat von knapp

18 Millionen Menschen. Familien sind seit Jahrhunder­ten fest verwurzelt. Andere haben erst eine neue Heimat gefunden: Jeder vierte Mensch in NRW hat einen Migrations­hintergrun­d. Viele NRWler leben längst woanders, tragen aber die Heimat im Herzen und mitunter auf der Zunge. Die Metropolre­gion Rhein-Ruhr ist mit rund zehn Millionen Bewohnern einer der 30 größten Ballungsrä­ume

der Welt. 30 der 81 deutschen Großstädte liegen in NRW, der Westen stellt die größte Gruppe in der Fußball-Bundesliga. Ein Verein, der Karneval, Kirmes-und Schützenfe­ste, Kirchengem­einden und Nachbarsch­aften, das Dorf, der Kiez, das Veedel – all das sorgt für Heimatgefü­hle.

Die lassen sich in NRW aber schwer in nur einem Bild zusammenfa­ssen – da haben es Norddeutsc­he mit Dünen und Brandung oder die Bayern mit ihrem Bergpanora­ma gewiss leichter. Unsere Küste ist das Rheinufer, unser Gipfelkreu­z steht auch auf einer aufgeschüt­teten Halde. Niederrhei­nische Kopfweiden lösen bei Heimwehkra­nken für sehnsuchts­volle Seufzer aus. Das Sauerland, das Land der tausend Berge, der Teutoburge­r Wald und das Siebengebi­rge machen mit ihren grünen Hügeln selbst die mit wenig Kondition versehenen Wanderer zu Gipfelstür­mern. Wir haben weder die höchsten Berge noch die tiefsten Seen. Und viele Orte, an denen wir heute unsere Freizeit genießen, stehen in der Tradition harter Arbeit: So sind Kletterwän­de in alten Industriea­nlagen entstanden, blaue Lagunen waren früher Kiesabbaug­ebiete. Und eines Tages darf das Land vielleicht einen Ozean beheimaten, wenn ein Tagebau bei Inden im Kreis Düren geflutet wird und NRWs größter See entsteht.

Es gibt Unesco-Weltkultur­erbestätte­n wie den Aachener Dom, die Schlösser Augustusbu­rg und Falkenlust in Brühl, den Kölner Dom, das Kloster Corvey und das Essener Welterbe Zollverein. Wer etwas über Geschichte lernen will, von Römern und Neandertal­ern, der muss je nach Wohnort nur die S-Bahn nehmen. Es ist alles da in diesem Land, das viele erst in der Corona-Pandemie für sich entdeckt haben. Nur für wahre Einsamkeit muss man je nach Wohnort richtig weit fahren. Wer keiner Menschense­ele begegnen möchte, der muss sehr tief in den Wald hinein oder in aller Herrgottsf­rühe aufstehen.

Längst wissen wir Nordrhein-Westfalen mit unserem leichten Hang zur Selbstverl­iebtheit, dass wir im Superlativ der Republik leben. Schließlic­h sind wir das bevölkerun­gsreichste Bundesland – wir sind wirklich viele, prozentual gesehen die meisten. Das nervt zwar im pickepacke­vollen Regionalex­press am Montagmorg­en und im Stau am Freitagnac­hmittag, aber stiftet immer auch ein Gefühl von Heimat: Denn egal wo wir in der Welt hinkommen, ob ans Nordkap, in ein kleines ligurische­s Dorf oder in einen Weiler im tiefsten Mecklenbur­g-Vorpommern – ein anderer Besucher mit dem Auto-Kennzeiche­n VIE, MS oder GM ist sicher schon vor uns da.

Die Metropolre­gion Rhein-Ruhr

ist mit rund zehn Millionen Bewohnern einer der 30 größten

Ballungsrä­ume der Welt

Wer keiner Menschense­ele begegnen möchte, der muss sehr tief in den Wald hinein oder in aller Herrgottsf­rühe aufstehen

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FOTO: DPA Heimat hat im Bindestric­h-Land Nordrhein-Westfalen viele Facetten. Kohlehalde­n gehören für viele Menschen dazu.
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FOTO: IMAGO Weltberühm­t, geschichts­trächtig – und für viele auch ein Bild der Heimat: das Hermannsde­nkmal.

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