Rheinische Post - Xanten and Moers
„Ich traue den Umfragen nicht über den Weg“
Der FDP-Chef kritisiert die Verzögerungen beim Impfpass und ruft die Grünen dazu auf, ihr Verhältnis zur Linkspartei zu klären.
Herr Lindner, nach dem Impfgipfel macht jedes Bundesland seine eigenen Regeln. Ist das sinnvoll? LINDNER Das Durcheinander hätte man vermeiden können, wenn man in die Novelle des Infektionsschutzgesetzes gleich eine Regelung mit aufgenommen hätte. Geimpfte sollten ihre Grundrechte wieder verwirklichen können. Aus unserer Sicht sollten sie zum Beispiel von den Kontaktbeschränkungen der Haushalte und den Ausgangssperren ausgenommen werden. Maskentragen zum Beispiel bei Bahnfahrten ist allerdings zunächst weiter notwendig – da der Impfnachweis im Einzelfall kaum zu kontrollieren ist.
Braucht es die Verfassungsklage wirklich? Wenn das Impfen wirkt, ist die Diskussion doch vorbei… LINDNER Jede staatliche Maßnahme muss am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden. Es kann nicht sein, dass Maßnahmen die Menschen in ihrer Freiheit einschränken, die andererseits weitgehend unwirksam sind. Die Ausgangssperre ist deshalb verfassungsrechtlich problematisch, weil diesem sehr scharfen Eingriff in die Grundrechte im Grunde genommen keine Wirksamkeit entgegensteht. Das Instrument braucht es nicht, wir haben wirksamere.
Die da wären?
LINDNER Vor allem die Begrenzung der Kontakte von Haushalten, die Intensivierung des Testens und die Beschleunigung des Impfens. Nach unserer Vorstellung müssten alle fünf Millionen Impfungen aus der Impfreserve jetzt verimpft werden, bei jedem Impfstoff sollte die Zeit zwischen den beiden Impfungen maximal gestreckt werden. Außerdem müssen die niedergelassenen Ärzte und die Betriebsärzte alle vollständig einbezogen werden. Die Fixierung allein auf die öffentlichen Impfzentren – mit der bisweilen doch schwerfälligeren Logistik – sollte aufgegeben werden.
Ab Montag ist der Bundestag dran. Werden Sie sich impfen lassen? LINDNER Sobald ich an der Reihe bin, werde ich mich impfen lassen.
Auch mit Astrazeneca?
LINDNER Auch das. Das ist für mich eine sehr klare Abwägung. Astrazeneca ist ein in Deutschland zugelassener Impfstoff. Ich schlage auch vor, dass die Bundesregierung
aktiv mit unseren Partnern in Europa darüber verhandelt, damit dort ungenutzte Astrazeneca-Lieferungen nach Deutschland geliefert werden. Schleswig-Holstein etwa hat mit Dänemark über die Überlassung des Impfstoffs schon erfolgreich gesprochen. Das könnte Vorbild für die Bundesrepublik sein, damit der Impfstoff an Freiwillige abgegeben werden kann. Jede Impfung ist hochwillkommen und bietet uns allen Schutz.
Muss es am Ende zu einer Impfpflicht kommen? Könnte man finanzielle Anreize setzen?
LINDNER Eine Debatte über eine allgemeine Impfpflicht brauchen wir nicht. Wir sollten aber für das Impfen werben, und das in den verschiedensten Bevölkerungsgruppen. Mediziner aus der Praxis berichten, dass zum Beispiel das Infektionsgeschehen bei Menschen mit Migrationshintergrund zurzeit höher ist als im Schnitt der Bevölkerung. Es geht hier um Menschen, die oft in Dienstleistungsberufen mit Kundenkontakt arbeiten, bei denen Homeoffice nicht möglich ist und die womöglich eher in beengten Wohnverhältnissen leben. Vielleicht gibt es auch Sprachbarrieren. Die Gesundheitsbehörden sollten aktiv auf diese Gruppen zugehen und dort massiv für Schutzmaßnahmen sowie das Impfen werben, auch mit Personal vor Ort.
Also keine finanziellen Anreize? LINDNER Für mich ist die Aussicht, am gesellschaftlichen Leben wieder teilzuhaben, der größte Anreiz für die Impfbereitschaft. Dabei sollte es auch erst mal bleiben.
Wie beurteilen Sie die Fortschritte beim elektronischen Impfpass? LINDNER Das ist ein Trauerspiel, es dauert leider wieder viel zu lang. Dafür fehlt mir jedes Verständnis. Es war bereits letztes Jahr abzusehen, dass dieses Thema kommen wird, wir haben hier auch auf Vorarbeiten gedrungen. Passiert ist nichts. Nun heißt der Zeitrahmen „eventuell Ende Juni“. Das ist zu spät. Jeder vierte Bürger ist zumindest schon ein Mal geimpft. Wir sollten uns dringend an den digitalen europäischen Impfpässen orientieren, die in anderen europäischen Ländern in Vorbereitung sind. Dann haben wir keine deutsche Bundeslösung, aber dafür eine schnelle Lösung.
Ist es besser, selbst zu regieren, als falsch regiert zu werden?
LINDNER Die FDP ist eine Gestaltungspartei. Wir wollen etwas von unserem Programm umsetzen können, sonst müssten wir gar nicht erst antreten. Wir wollen die Bürger entlasten, nicht zusätzlich belasten. Die FDP gibt in diesem Wahljahr 2021 die politische Garantie ab, dass es mit uns keine höhere Belastung bei der Besteuerung der Einkommen der Beschäftigten oder derer, die Verantwortung für Arbeitsplätze tragen, gibt. Darauf kann man sich bei uns verlassen, das hat man 2017 gesehen. Nur für Dienstfahrzeuge sind wir nicht zu haben.
Was haben Sie aus dem Scheitern von Jamaika 2017 für 2021 gelernt? LINDNER Die FDP wird dann gerne in eine Regierung eintreten, wenn unsere Werte, Ideen und Vorhaben genauso respektiert werden, wie wir unsererseits die Programme unserer Mitbewerber akzeptieren. Die Blaupause für solche Verhandlungen auf Augenhöhe waren die Verhandlungen der schwarz-gelben Regierung in NRW. Dort gibt es bis heute eine sehr faire Zusammenarbeit zwischen FDP und Union.
Ein Plädoyer für Armin Laschet? LINDNER Auch Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz führt die Koalitionsverhandlungen mit den Partnern auf Augenhöhe. Dass Frau Merkel seinerzeit nur ihre bekannte Politik fortsetzen wollte, ergänzt allein um Zugeständnisse an die Grünen, ist zu Recht gescheitert. Für die FDP war in dieser Konstellation nur die Rolle als Mehrheitsbeschaffer vorgesehen.
Wie viel liberale Bürgerlichkeit steckt in den Grünen?
LINDNER Viele Grünen-Politiker treten bürgerlich auf, das inhaltliche Programm kann seine Verwandtschaftsbeziehung zur Linkspartei nicht leugnen. Vom bedingungslosen Grundeinkommen, das durch höhere Steuern vom Facharbeiter finanziert werden muss, über lenkende Eingriffe in jeden Teil von Wirtschaft und Gesellschaft findet sich vieles wieder, was auch den Applaus der Linkspartei finden würde.
Schließt die FDP also ein Zusammengehen mit den Linken aus? LINDNER Diese Frage stellt sich eher den Grünen als der FDP. Wir haben ja durch unsere Entscheidung 2017 unter Beweis gestellt, dass wir nur für eine Politik der Mitte zur Verfügung stehen. Koalitionen mit der Linkspartei schließt das aus. Die Grünen haben in Bremen nicht mit dem Wahlsieger CDU eine Jamaika-Koalition gebildet, sondern die Linkspartei erstmals in eine westdeutsche Länderregierung geholt. Sie haben hier Erklärungsbedarf. Frau Baerbock wird beantworten müssen, ob sie sich auch von der Linkspartei zur Kanzlerin wählen lassen will, und wie es dann mit der internationalen Verlässlichkeit Deutschlands aussieht, mit dem Respekt vor Eigentum und individuellen Anstrengungen.
Die SPD bei 13 Prozent, die Grünen gewinnen CDU- und SPD-Wähler – was macht das mit der FDP? LINDNER Ich traue den Umfragen gegenwärtig nicht über den Weg. Für die FDP ist die Ausgangslage dennoch günstig. Noch nie haben wir in zwei Bundestagswahlen hintereinander zweistellig abschneiden können. Das scheint jetzt möglich. Doch die Menschen haben im Moment so viele andere Sorgen als die Frage, was sie an einem Sonntag im September tun werden.
Armin Laschet scheint an einem schwarz-gelben Bündnis auch im Bund Gefallen zu finden. Sie auch? LINDNER Entscheidend ist für uns, dass eine schwarz-grüne und eine grün-rot-rote Mehrheit verhindert wird. Für dieses strategische Ziel wollen wir zweistellig und stärker als die AfD werden. Dann wird die FDP bei den Gesprächen über eine Regierungsbildung eine Rolle spielen. Und nur dann haben wir die Garantie, dass das Land aus der Mitte heraus regiert wird.