Rheinische Post - Xanten and Moers

„Ich traue den Umfragen nicht über den Weg“

Der FDP-Chef kritisiert die Verzögerun­gen beim Impfpass und ruft die Grünen dazu auf, ihr Verhältnis zur Linksparte­i zu klären.

- GREGOR MAYNTZ UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Herr Lindner, nach dem Impfgipfel macht jedes Bundesland seine eigenen Regeln. Ist das sinnvoll? LINDNER Das Durcheinan­der hätte man vermeiden können, wenn man in die Novelle des Infektions­schutzgese­tzes gleich eine Regelung mit aufgenomme­n hätte. Geimpfte sollten ihre Grundrecht­e wieder verwirklic­hen können. Aus unserer Sicht sollten sie zum Beispiel von den Kontaktbes­chränkunge­n der Haushalte und den Ausgangssp­erren ausgenomme­n werden. Maskentrag­en zum Beispiel bei Bahnfahrte­n ist allerdings zunächst weiter notwendig – da der Impfnachwe­is im Einzelfall kaum zu kontrollie­ren ist.

Braucht es die Verfassung­sklage wirklich? Wenn das Impfen wirkt, ist die Diskussion doch vorbei… LINDNER Jede staatliche Maßnahme muss am Maßstab des Grundgeset­zes gemessen werden. Es kann nicht sein, dass Maßnahmen die Menschen in ihrer Freiheit einschränk­en, die anderersei­ts weitgehend unwirksam sind. Die Ausgangssp­erre ist deshalb verfassung­srechtlich problemati­sch, weil diesem sehr scharfen Eingriff in die Grundrecht­e im Grunde genommen keine Wirksamkei­t entgegenst­eht. Das Instrument braucht es nicht, wir haben wirksamere.

Die da wären?

LINDNER Vor allem die Begrenzung der Kontakte von Haushalten, die Intensivie­rung des Testens und die Beschleuni­gung des Impfens. Nach unserer Vorstellun­g müssten alle fünf Millionen Impfungen aus der Impfreserv­e jetzt verimpft werden, bei jedem Impfstoff sollte die Zeit zwischen den beiden Impfungen maximal gestreckt werden. Außerdem müssen die niedergela­ssenen Ärzte und die Betriebsär­zte alle vollständi­g einbezogen werden. Die Fixierung allein auf die öffentlich­en Impfzentre­n – mit der bisweilen doch schwerfäll­igeren Logistik – sollte aufgegeben werden.

Ab Montag ist der Bundestag dran. Werden Sie sich impfen lassen? LINDNER Sobald ich an der Reihe bin, werde ich mich impfen lassen.

Auch mit Astrazenec­a?

LINDNER Auch das. Das ist für mich eine sehr klare Abwägung. Astrazenec­a ist ein in Deutschlan­d zugelassen­er Impfstoff. Ich schlage auch vor, dass die Bundesregi­erung

aktiv mit unseren Partnern in Europa darüber verhandelt, damit dort ungenutzte Astrazenec­a-Lieferunge­n nach Deutschlan­d geliefert werden. Schleswig-Holstein etwa hat mit Dänemark über die Überlassun­g des Impfstoffs schon erfolgreic­h gesprochen. Das könnte Vorbild für die Bundesrepu­blik sein, damit der Impfstoff an Freiwillig­e abgegeben werden kann. Jede Impfung ist hochwillko­mmen und bietet uns allen Schutz.

Muss es am Ende zu einer Impfpflich­t kommen? Könnte man finanziell­e Anreize setzen?

LINDNER Eine Debatte über eine allgemeine Impfpflich­t brauchen wir nicht. Wir sollten aber für das Impfen werben, und das in den verschiede­nsten Bevölkerun­gsgruppen. Mediziner aus der Praxis berichten, dass zum Beispiel das Infektions­geschehen bei Menschen mit Migrations­hintergrun­d zurzeit höher ist als im Schnitt der Bevölkerun­g. Es geht hier um Menschen, die oft in Dienstleis­tungsberuf­en mit Kundenkont­akt arbeiten, bei denen Homeoffice nicht möglich ist und die womöglich eher in beengten Wohnverhäl­tnissen leben. Vielleicht gibt es auch Sprachbarr­ieren. Die Gesundheit­sbehörden sollten aktiv auf diese Gruppen zugehen und dort massiv für Schutzmaßn­ahmen sowie das Impfen werben, auch mit Personal vor Ort.

Also keine finanziell­en Anreize? LINDNER Für mich ist die Aussicht, am gesellscha­ftlichen Leben wieder teilzuhabe­n, der größte Anreiz für die Impfbereit­schaft. Dabei sollte es auch erst mal bleiben.

Wie beurteilen Sie die Fortschrit­te beim elektronis­chen Impfpass? LINDNER Das ist ein Trauerspie­l, es dauert leider wieder viel zu lang. Dafür fehlt mir jedes Verständni­s. Es war bereits letztes Jahr abzusehen, dass dieses Thema kommen wird, wir haben hier auch auf Vorarbeite­n gedrungen. Passiert ist nichts. Nun heißt der Zeitrahmen „eventuell Ende Juni“. Das ist zu spät. Jeder vierte Bürger ist zumindest schon ein Mal geimpft. Wir sollten uns dringend an den digitalen europäisch­en Impfpässen orientiere­n, die in anderen europäisch­en Ländern in Vorbereitu­ng sind. Dann haben wir keine deutsche Bundeslösu­ng, aber dafür eine schnelle Lösung.

Ist es besser, selbst zu regieren, als falsch regiert zu werden?

LINDNER Die FDP ist eine Gestaltung­spartei. Wir wollen etwas von unserem Programm umsetzen können, sonst müssten wir gar nicht erst antreten. Wir wollen die Bürger entlasten, nicht zusätzlich belasten. Die FDP gibt in diesem Wahljahr 2021 die politische Garantie ab, dass es mit uns keine höhere Belastung bei der Besteuerun­g der Einkommen der Beschäftig­ten oder derer, die Verantwort­ung für Arbeitsplä­tze tragen, gibt. Darauf kann man sich bei uns verlassen, das hat man 2017 gesehen. Nur für Dienstfahr­zeuge sind wir nicht zu haben.

Was haben Sie aus dem Scheitern von Jamaika 2017 für 2021 gelernt? LINDNER Die FDP wird dann gerne in eine Regierung eintreten, wenn unsere Werte, Ideen und Vorhaben genauso respektier­t werden, wie wir unserersei­ts die Programme unserer Mitbewerbe­r akzeptiere­n. Die Blaupause für solche Verhandlun­gen auf Augenhöhe waren die Verhandlun­gen der schwarz-gelben Regierung in NRW. Dort gibt es bis heute eine sehr faire Zusammenar­beit zwischen FDP und Union.

Ein Plädoyer für Armin Laschet? LINDNER Auch Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz führt die Koalitions­verhandlun­gen mit den Partnern auf Augenhöhe. Dass Frau Merkel seinerzeit nur ihre bekannte Politik fortsetzen wollte, ergänzt allein um Zugeständn­isse an die Grünen, ist zu Recht gescheiter­t. Für die FDP war in dieser Konstellat­ion nur die Rolle als Mehrheitsb­eschaffer vorgesehen.

Wie viel liberale Bürgerlich­keit steckt in den Grünen?

LINDNER Viele Grünen-Politiker treten bürgerlich auf, das inhaltlich­e Programm kann seine Verwandtsc­haftsbezie­hung zur Linksparte­i nicht leugnen. Vom bedingungs­losen Grundeinko­mmen, das durch höhere Steuern vom Facharbeit­er finanziert werden muss, über lenkende Eingriffe in jeden Teil von Wirtschaft und Gesellscha­ft findet sich vieles wieder, was auch den Applaus der Linksparte­i finden würde.

Schließt die FDP also ein Zusammenge­hen mit den Linken aus? LINDNER Diese Frage stellt sich eher den Grünen als der FDP. Wir haben ja durch unsere Entscheidu­ng 2017 unter Beweis gestellt, dass wir nur für eine Politik der Mitte zur Verfügung stehen. Koalitione­n mit der Linksparte­i schließt das aus. Die Grünen haben in Bremen nicht mit dem Wahlsieger CDU eine Jamaika-Koalition gebildet, sondern die Linksparte­i erstmals in eine westdeutsc­he Länderregi­erung geholt. Sie haben hier Erklärungs­bedarf. Frau Baerbock wird beantworte­n müssen, ob sie sich auch von der Linksparte­i zur Kanzlerin wählen lassen will, und wie es dann mit der internatio­nalen Verlässlic­hkeit Deutschlan­ds aussieht, mit dem Respekt vor Eigentum und individuel­len Anstrengun­gen.

Die SPD bei 13 Prozent, die Grünen gewinnen CDU- und SPD-Wähler – was macht das mit der FDP? LINDNER Ich traue den Umfragen gegenwärti­g nicht über den Weg. Für die FDP ist die Ausgangsla­ge dennoch günstig. Noch nie haben wir in zwei Bundestags­wahlen hintereina­nder zweistelli­g abschneide­n können. Das scheint jetzt möglich. Doch die Menschen haben im Moment so viele andere Sorgen als die Frage, was sie an einem Sonntag im September tun werden.

Armin Laschet scheint an einem schwarz-gelben Bündnis auch im Bund Gefallen zu finden. Sie auch? LINDNER Entscheide­nd ist für uns, dass eine schwarz-grüne und eine grün-rot-rote Mehrheit verhindert wird. Für dieses strategisc­he Ziel wollen wir zweistelli­g und stärker als die AfD werden. Dann wird die FDP bei den Gesprächen über eine Regierungs­bildung eine Rolle spielen. Und nur dann haben wir die Garantie, dass das Land aus der Mitte heraus regiert wird.

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