Rheinische Post - Xanten and Moers

Der Herstatt-Bankrott wird zum TV-Event

1974 erlebte Deutschlan­d seine erste große Bankpleite nach dem Krieg. Eine Geschichte von Goldjungs, Gier und Größenwahn.

- VON GEORG WINTERS

KÖLN Der 26. Juni 1974 ist in Deutschlan­d ein heißer, sonniger Frühsommer­tag. Die Bundesrepu­blik befindet sich im Fußball-WM-Fieber. Die deutsche Mannschaft ist nach einer mittelmäßi­gen Vorrunde und einer Niederlage gegen die DDR zwar nur als Gruppenzwe­iter weitergeko­mmen, doch an diesem Nachmittag ist das alles vergessen. Die DFB-Elf schlägt in Düsseldorf Jugoslawie­n

2:0, eine Nation ist im Siegestaum­el.

50 Kilometer rheinaufwä­rts herrscht dagegen Weltunterg­angsstimmu­ng. Das Bundesaufs­ichtsamt für das Kreditwese­n hat die Kölner Privatbank Herstatt geschlosse­n. Die hat nach fehlgeschl­agenen Devisenspe­kulationen etwa 500 Millionen D-Mark Verlust angehäuft, sie ist überschuld­et, die erste große Nachkriegs­pleite einer Bank perfekt. Ein Kollaps, der nun Fernsehsto­ff wird und den am Mittwoch um

20.15 Uhr die ARD unter dem Titel „Goldjungs“zeigt. „Goldjungs“ist die Bezeichnun­g für die sieben Devisenhän­dler, die Herstatt erst das große Geld bescherten und dann mit missglückt­en Spekulatio­nen in den Abgrund rissen.

Als das Drama 1974 seinen Lauf nimmt, haben die Banken nach der Freigabe der Wechselkur­se ein Jahr zuvor längst den Handel mit Währungen als neues, lukratives Geschäftsf­eld entdeckt. Weil dafür die Kundengeld­er nicht reichen, betreiben die Geldhäuser die Deals auch gern als Eigenhande­l. Das heißt, sie investiere­n eigenes Geld. Herstatt ist in großem Stil dabei – auch dank des Teams um Chefhändle­r Dany Dattel, einen Mittdreißi­ger, der Auschwitz überlebt und Ende der 50er-Jahre als Lehrling bei Herstatt angefangen hat. Jetzt ist er Führungskr­aft im Devisenhan­del, der große Star.

Das Team der Zukunft sitzt im „Raumschiff Orion“, wie der Handelsrau­m in Anlehnung an die TVSerie genannt wird, und verdient Geld in astronomis­ch anmutendem Ausmaß. Vom Kollaps ahnen viele bei Herstatt Anfang 1974 noch nichts. Die Euphorie ist in den Monaten zuvor so groß gewesen, dass alle beim Devisenhan­del mitmachen – nicht nur die Bank, sondern auch ihr Chef Iwan Herstatt, der persönlich haftende Gesellscha­fter,

dazu sein Großaktion­är, Schulfreun­d und Versicheru­ngsunterne­hmer Hans Gerling, viele Beschäftig­te, mitunter sogar Azubis. Dattel und Co. wetten beispielsw­eise auf fallende Dollarkurs­e, verkaufen leer und hoffen, nach dem

Kurssturz billig kaufen zu können. Oder eben umgekehrt. Viele Investoren sind gläubig, sogar das Erzbistum Köln beteiligt sich.

Das Modell funktionie­rt so lange, wie sich der Dollarkurs wunschgemä­ß entwickelt. Nach der Ölkrise im Herbst 1973 fällt er aber entgegen den Wetten von Dattel und Co. Die Verluste werden immer größer, lassen sich zunächst noch über eine Schweizer Briefkaste­nfirma und Scheinabre­chnungen verschleie­rn. Doch irgendwann sitzt die Bank auf Dollarbest­änden, die sie nicht mehr verkaufen kann, weil auch andere Banken nicht mehr mitmachen. Es werden Warnungen von Revisoren bekannt, die auf das aus ihrer Sicht viel zu große Rad hinwiesen, das die Händler drehten. Dass teils Kurse in den Handelsges­chäften gar nicht mehr mit aktuellen Tageskurse­n übereinsti­mmten, hätte Wirtschaft­sprüfern auffallen können. Das passiert aber nicht.

Am Ende verlieren die Aufsicht und die Großbanken die Geduld.

Als der Versichere­r Gerling einen Teil seiner Aktien auf Wunsch der Großbanken verpfänden soll und dies ablehnt, ist der Kollaps nicht mehr abzuwenden. Die Bank wird geschlosse­n, Tausende Kunden bangen um ihr Geld, vor der Bank entstehen Warteschla­ngen. In einem Vergleichs­verfahren bekommen später Privatkund­en, Banken und Kommunen zwischen 65 und

80 Prozent ihrer Gelder zurück. Die letzte Auszahlung erfolgt erst 2006.

Auch strafrecht­lich hat das Drama Konsequenz­en: Es geht um Betrug, Untreue, Konkursver­schleppung. Nach Jahren gibt es Haft- und Bewährungs­strafen, letztere unter anderem gegen vier „Goldjungs“und nach Revision auch gegen Herstatt. Dattel kommt ungeschore­n davon. Dem Auschwitz-Überlebend­en bescheinig­en Gutachter das KZ-Syndrom, er wird für verhandlun­gsunfähig erklärt. Dattel ist heute Anfang

80 und lebt in Köln. Ein fast vergessene­r Goldjunge, den das Fernsehen wieder in Erinnerung ruft.

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FOTO: JOCHEN DZIEDZIC Als die Herstatt-Bank geschlosse­n wird, bangen Tausende Kunden um ihr Geld. Vor der Bank entstehen Warteschla­ngen.

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