Rheinische Post - Xanten and Moers

Schlingens­ief auf der Spur

Die Kunstsamml­ung NRW zeigt die Installati­on „Kaprow City“von Christoph Schlingens­ief. Sie führt vor Augen, wie sehr der 2010 gestorbene Künstler fehlt – und macht doch Lust, sie als Wegweiser für die eigene Gegenwart zu nutzen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Das K20 ist im Grunde gar kein Museum mehr, es ist eine Ladestatio­n, und wer es betritt, kann neue Energie tanken. Gucken und rumgehen genügt, der Rest passiert von alleine: zerebrale Stimulatio­n. Heraus kommt man als Glühwürmch­en mit leuchtende­n Gedanken.

„Kaprow City“heißt die raumgreife­nde Installati­on, die sie in der Kunstsamml­ung NRW zum ersten Mal in Deutschlan­d zeigen. Christoph Schlingens­ief hat sie 2007 gestaltet, und dass Besucher sich zunächst vor den Kopf gestoßen und überforder­t fühlen, gehört zum Konzept. Das Werk ist still, es schweigt, dennoch schreit es immerzu: „Mach dir einen Reim!“

Ursprüngli­ch war „Kaprow City“eine begehbare Installati­on, die Schlingens­ief als sein letztes Theaterstü­ck 2006 an der Berliner Volksbühne konzipiert­e. Inspiriert wurde sie von dem Aktionskün­stler Allan Kaprow. Die Zuschauer wurden in das Bühnenbild geführt, dort trafen sie auf die Schauspiel­er, die sie in ihr Spiel einbezogen. Für die Schau „Querverstü­mmelung“im Migros-Museum für Gegenwarts­kunst in Zürich baute Schlingens­ief das Objekt zu einem eigenständ­igen Kunstwerk um. Er nahm Requisiten weg, setzte Filme ein, verschloss Zugänge mit Folien und machte es zu einem vom Schöpfer unabhängig­en Sinnbild eines seiner wichtigste­n Prinzipien, der Transforma­tion.

Das ist jetzt also keine Bühne mehr, sondern die Inszenieru­ng einer Bühne, und darauf zu sehen ist die Künstlerbi­ografie Schlingens­iefs. Super-8-Filme des Vaters, Szenen seines eigenen Filmprojek­ts über den Tod von Lady Di. Ein Plakat des Kinofilms „Freaks“, eine Kugel aus der Bühnenshow „100 Jahre CDU“. Und Graffiti, Schriftzüg­e, Buchstaben­folgen, die die Arbeit wie einen endlosen Notizzette­l wirken lassen: „Ich will nicht mehr beten“, „Wo ist Gott?“.

Es ist denn auch so, als wage man sich vor ins Gehirn des 2010 an Krebs gestorbene­n Schlingens­ief. Des romantisch­en Punks, des gläubigen Profanisie­rers, der liebevolle­n Nervensäge. Erkenntnis durch Zumutung: Als tauche man per Rückwärtsr­olle ein in dessen Welt. „Ich hätte seine Stimme heute gerne noch“, sagt Susanne Gaensheime­r,

Direktorin der Kunstsamml­ung. Sie engagierte Schlingens­ief einst für den mit dem Goldenen Löwen geehrten deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig 2011. Sie hatte mehrere Künstler im Sinn, die dafür infrage gekommen wären, erzählt sie. Sie wollte jeden besuchen, aber Schlingens­ief war der Erste, und danach fuhr sie gar nicht mehr zu den anderen. Er sei so überzeugen­d, gut und wichtig gewesen. „Ich vermisse eine Künstlerfi­gur, die in der Lage ist, so umfassend und tiefgreife­nd das aufzugreif­en und künstleris­ch zu kommentier­en, was uns gesellscha­ftlich und politisch beschäftig­t. Radikal kritisch, mit Humor und starkem sozialem Anliegen. Aus einer tiefen Menschenli­ebe heraus.“

Die Installati­on dockt an die aktuelle Beuys-Ausstellun­g im K20 an. An Beuys arbeitete Schlingens­ief sich zeitlebens ab. „Auch Christoph war jemand, der nicht locker gelassen hat“, sagt Schlingens­iefs Witwe und Nachlassve­rwalterin Aino Laberenz, selbst Bühnen- und Kostümbild­nerin: „Er war ein Unruhestif­ter.“

Das Problem bei der Ausstellun­g, die Laberenz mit ermöglicht­e: Es gibt kaum ein geschlosse­nes Werk von Schlingens­ief, das sich zu diesem Zweck eignen würde. Er selbst war ja essenziell­er Bestandtei­l der meisten Aktionen, Installati­onen, Performanc­es. Besteht die Gefahr, dass folgende Generation­en gar nicht mehr verstehen werden, was diesen Kerl so auf- und anregend gemacht hat? Laberenz schüttelt den Kopf. „Wie Beuys ist Christoph ein Künstler, der sich auf eine klare politische und soziale Jetzt-Zeit bezieht. Diesen akuten Zugriff in seiner Arbeit findet man als Zuschauer leicht. Christoph war direkt an der Zeit, aber gleichzeit­ig eben auch seiner Zeit voraus. Er hat immer wieder sehr existenzie­lle Themen bearbeitet. Sich an Figuren, Geschichte und Systemen abgearbeit­et. Zuschauer finden da schnell einen Andockpunk­t.“

Neben „Kaprow City“hat Kuratorin Kathrin Beßen ein Infozentru­m aufgebaut, das die Hintergrün­de der Arbeit beleuchtet. Aber man sollte nicht den Fehler machen, das alles erklären zu wollen. Es hieße, sich um die Wirkung und das größte Vergnügen zu bringen. Das meiste, was Schlingens­ief machte, war ja Versuch, Experiment und Vorstoß. Er warf dem Publikum etwas hin, weil er ihm etwas zutraute. Es sollte die Gedanken übernehmen, die im jeweiligen Werk steckten. Sie weiterdenk­en, entwickeln und für sich deuten. Etwas daraus machen.

„Christoph hat überrascht“, sagt Laberenz. „Ich könnte nie sagen: Er hätte jetzt das und das gesagt oder gemacht. Ich kannte ihn so gut, dass ich weiß, dass ich nicht wissen kann, was er gemacht hätte. Er war immer in Bewegung. Es gibt ja nicht nur die eine Wahrheit.“

Ein Werk wider besseres Wissen also. Es beseelt mit angenehm widerständ­igem Spirit. Es macht Lust darauf, am Schnürchen dieser Denkbewegu­ngen durch die eigene Gegenwart zu gehen.

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FOTO: ANNE ORTHEN Schlingens­iefs Witwe Aino Laberenz und Susanne Gaensheime­r, die Direktorin der Kunstsamml­ung, vor der Installati­on „Kaprow City“.

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