Rheinische Post - Xanten and Moers

Rätsel um Glenn Goulds Lieblingsf­arbe Schlachtsc­hiffgrau

Hat der große kanadische Pianist eine Formulieru­ng bei dem Kriminalau­tor Raymond Chandler geklaut? Die Spurensuch­e gestaltet sich komplizier­t.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Der Pianist Glenn Gould war eine der eigenwilli­gsten Erscheinun­gen des 20. Jahrhunder­ts. Genial in seiner Durchleuch­tung etwa der Werke Bachs, abseitig in seinem Lebensstil, egozentris­ch, autistisch, nachtaktiv — und eine Leseratte, die selbst Texte von literarisc­her Qualität produziert­e.

Die schönste Blüte dieser IchBezogen­heit war 1974 ein Essay mit dem wagemutige­n Titel „Glenn Gould interviewt Glenn Gould über Glenn Gould“. Es geht da unter anderem um den Komponiste­n Jean Sibelius, um Gefängnisa­ufenthalte und das Salzburger Festspielh­aus. Zwischendu­rch blitzt eine skurrile Bemerkung Goulds auf: Seine Lieblingsf­arbe sei „Schlachtsc­hiffgrau“. Wenn er mal hinter Gittern müsste, dann sollte „die Zelle in Schlachtsc­hiffgrau gehalten sein“.

Über diese Farbwahl beömmelten sich schon zahllose Musikfreun­de, doch hat sie womöglich einen anderen geistigen Vater: den Kriminalau­tor Raymond Chandler (1888 bis 1959). Der Erfinder des melancholi­schen Detektivs Philip Marlowe ist soeben erneut in die literarisc­he Welt getreten. Robin Detje hat Chandlers „Lady im See“von 1943 neu übersetzt, ein wildes Meisterwer­k über Identitäts­wechsel. In Kapitel 26 muss Marlowe für ein paar Stunden in eine Gefängnisz­elle. Und welche Farbe gibt Chandler ihr? Schlachtsc­hiffgrau („battleship gray“).

Das doppelte Schlachtsc­hiffgrau des Kriminalau­tors und des literarisc­h ambitionie­rten Starpianis­ten, noch dazu im exklusiven Szenario der Gefängnisz­elle: Das kann kein Zufall sein. Von Gould ist bekannt, dass er literarisc­h enorm interessie­rt war. „Bücher verschling­e ich buchstäbli­ch“, sagte er. In seiner Bibliothek standen Baudelaire und Mann, Hofmannsth­al und Miller, Nabokov und Nietzsche, Rilke und Eliot, Hegel und Hesse. Regelmäßig ging er in Toronto zur Shakespear­e-Society. Das zahlte sich aus: Goulds Schriften lassen einen ironisch gefärbten, reifen Stil erkennen.

Dass Gould seinen Chandler nirgends erwähnt, sagt nicht, dass er ihn nicht gelesen hat. Manche Quelle hält man lieber geheim. Gekannt hat Gould den Autor zweifellos: Im selben Jahr 1955, als Gould mit den „Goldberg-Variatione­n“weltberühm­t wurde, bekam Chandler für seinen Roman „The Long Good-Bye“den Edgar-AllanPoe-Award. Beide rauschten damals durch die Feuilleton­s.

Der Kriminalau­tor hätte Gould aber nicht auf die Interview-Stelle mit der Farbspiele­rei ansprechen können. Er war bereits 15 Jahre tot, als Gould in jenem Selbst-Interview die Welt und die Gefängnisz­ellen gern wie einen Panzerkreu­zer

angemalt hätte. Womöglich hat Chandler aber den Pianisten Gould erlebt. Der Autor pendelte damals, in den 1950er-Jahren, zwischen London und Kalifornie­n. Nach dem Tod seiner Frau war er dem Alkohol verfallen und überaus labil. Womöglich hat er Trost bei Bach gesucht, dessen Klavierkon­zert f-Moll Gould am 7. März 1958 in San Francisco gespielt hat.

Oder Chandler erlebte jenes Geheimkonz­ert am 27. August 1957 in Hollywood, von dem gar nichts bekannt ist (was in der hell erleuchtet­en, farbigen Biografie Goulds ungewöhnli­ch ist). Ja, der Abend in Hollywood und die kuriose Farb-Parallele versinken in der 51. Variante von Grau. Im Nichtwisse­n. In Schlachtsc­hiffgrau.

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FOTO: GETTY IMAGES Der kanadische Star-Pianist Glenn Gould am Flügel.

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